«Diese Zeit wurde totgeschwiegen»Artistin

Der oberösterreichischen Autorin Leonora Leitl ist mit dem Jugendroman Held Hermann ein Überraschungserfolg geglückt.

TEXT: ROBERT FISCHER
FOTOS: REINHARD WINKLER

Anhand der Geschichte des 12-jährigen Hermann aus Freistadt im Mühlviertel und seiner im Widerstand gegen die Nazis engagierten Familie wird neben einem wichtigen Kapitel Zeit­geschichte auch der triste Alltag der Bevölkerung im letzten Kriegsjahr 1945 real spürbar. Der auf wahren Begebenheiten beruhende und bis in kleinste Details recherchierte Roman ist gerade in Zeiten, in denen viele der Zeitzeug_innen wegsterben und rechte Bewegungen weltweit Zulauf bekommen, wichtig und hochaktuell.

Sie sind ja ursprünglich Illustratorin. Wie kam es dazu, dass Sie begonnen haben, Texte zu schreiben?
Ich hab einfach Texte für meine Illustrationen gebraucht und hab irgendwann damit begonnen, sie selbst zu verfassen.

Wie lange haben Sie dann an Held Hermann gearbeitet?
Insgesamt drei Jahre. Ich hab das Buch ja nicht nur geschrieben, sondern auch illustriert. Das Thema war auch in meiner eigenen Familie immer sehr präsent, und es wurde am Küchentisch oft darüber gesprochen. Ich habe schon als Kind bzw. Jugendliche immer ganz viel über diese Zeit im Zweiten Weltkrieg gelesen, und als Erwachsene hab ich das fortgesetzt. Mich hat interessiert, wie es dazu kommen konnte, dass Hitler an die Macht kam. Es hat auch so lange gedauert, weil ich so viel intensive Recherche-Arbeit für das Buch betrieben habe. Natürlich hab ich für das Buch dann viele Sachen nochmals und genauer gelesen und mir oft Notizen für meinen Text gemacht. Gerade diese Sache mit der Widerstandsgruppe Neues Freies Österreich in Freistadt ist ja bis heute nicht ganz erforscht. Es war schwierig, da Infos zu finden, und ich hab deswegen aus mehreren Büchern das Wichtigste zusammengesucht. Mir war wichtig, dass der historische Hintergrund im Buch ziemlich genau stimmt.

Die Hintergründe über die Widerstandsgruppe Neues Freies Österreich bzw. generell über den Widerstand gegen das Nazi-Regime in Österreich sind in der Öffentlichkeit immer noch so eine Art Tabuthema?
Ja, auf jeden Fall! Mir ist das erst kürzlich wieder bewusst geworden. In einer großen deutschen Zeitung in München stand ein Bericht über Held Hermann, und dann hat sich darauf eine Frau gemeldet. Sie ist die Großnichte von einem der Drahtzieher der Widerstandsgruppe und ist sprichwörtlich aus den Socken gekippt, als sie über mein Buch gelesen hat. Die Frau hat mir eine E-Mail geschrieben, in der sie mir erzählt hat, dass in ihrer Familie über diese Sache absolut nicht geredet wurde. Sie weiß bis heute nicht, was da genau passiert ist, obwohl das jetzt schon 75 Jahre her ist.

Warum, glauben Sie, wurde und wird über diese Zeit nicht offen gesprochen?
Das ist echt unglaublich. Eigentlich waren ja die Leute im Widerstand sozusagen die Guten. Dass ich über einen Verwandten, der vielleicht ein großer Nazi war, nicht reden möchte, ist schon klar. Aber dass man über eine Widerstandsgruppe nicht redet, ist komisch.

Es gibt in Ihrem Buch auch witzige historische Details, wie die Erwähnung des Kochbuchs Hofkoch Friedrich Hampels Wiener Küche von 1915. Gab es dieses Kochbuch wirklich?
Ja, schon, aber es war eigentlich nur so eine Art Broschüre. Aber ich hab dann noch ein zweites Kochbuch aus dieser Zeit gefunden und die beiden Bücher im Roman zusammengemischt. Es ist aber wirklich herrlich, so ein altes Kochbuch zu lesen, mit Anweisungen wie: «Mit besonders heißer Röhre backen!» Da habe ich dann wieder meine Großmutter gefragt, was das heißen könnte. Sie hat nur gemeint: Ganz einfach, damals gab es noch keinen Strom, und die Anweisung bezieht sich darauf, wie stark man den Ofen einheizen muss. Diese Details waren am Beginn des Schreibens die größte Schwierigkeit: der Alltag der Leute damals. Vieles kann man in Büchern nachlesen oder im Internet googeln, aber bei vielen banalen Dingen aus dem Alltag hab ich mich oft gefragt: Wie war das damals? Hat es das jetzt so gegeben oder nicht? Aus diesem Grund waren die ersten fünf, sechs Kapitel im Buch sicher am schwierigsten zu schreiben.

Gibt es in Freistadt heute eigentlich etwas, das an die Widerstandsgruppe Neues Freies Österreich erinnert?
Ja, es gibt das Denkmal «Der blaue Stein» für die elf im Herbst 1944 ermordeten Mitglieder der Gruppe, das vor dem Linzertor steht. Das Einzigartige an der Freistädter Widerstandsbewegung ist, dass daran ein ganzer Ort beteiligt war und sich die Mitglieder aus ganz vielen verschiedenen politischen Gruppierungen rekrutiert haben. Das ist etwas Besonderes, weil es sonst in Österreich nur Widerstandsgruppen gab, die sich aus einem bestimmten politischen Lager, also zum Beispiel den Sozialisten, gebildet haben. Generell hat es aber bis in die späten 1980er-Jahre gedauert, bis die Geschichte der Gruppe erforscht worden ist. Tragisch ist, dass vieles heute nicht mehr komplett rekonstruierbar ist. Die Mitglieder der Gruppe, die nicht verraten und getötet wurden, haben zumeist den Rest ihres Lebens darüber geschwiegen. Mittlerweile sind viele dieser Personen schon verstorben. Vieles davon, das mittlerweile über die Gruppe bekannt ist, ist in mein Buch eingeflossen, aber manche Dinge bleiben wahrscheinlich für immer unaufgeklärt.

Das Buch richtet sich in erster Linie an Jugendliche. Was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten, wenn man für Jugendliche schreibt?
Mir war wichtig zu zeigen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Dieser Begriff wird aktuell meiner Meinung nach sehr inflationär verwendet. Zusätzlich ist es mir ein Anliegen, die Jugendlichen dazu zu animieren, politisch denkende Menschen zu werden. Das ist mir besonders wichtig.

Es gibt die Befürchtung, dass mittlerweile viele Jugendliche, aber auch Erwachsene, von der NS-Zeit in Österreich nicht mehr viel Ahnung  haben und sich deswegen leichter politisch für rechte Ideologien und Programme begeistern lassen. Sehen Sie das auch so?
Ich glaube, das ist recht unterschiedlich. Vor ein paar Monaten war in einer Zeitung ein Bericht, wo in einer Umfrage (des Zentrums für Politische Bildung im Auftrag der AK Wien; Anm. d. Red.) erhoben wurde, dass ein großer Teil der Jugendlichen den Namen von Hitlers Partei nicht mehr kennt. Bei dieser Untersuchung hat sich auch herausgestellt, dass beim Thema NS-Zeit auch bei Lehrern große Defizite vorhanden sind. Andrerseits kenne ich einige Jugendliche, die sich in diesem Bereich erstaunlich gut auskennen. Anscheinend ist der Wissensstand bei Jugendlichen über die NS-Zeit sehr unterschiedlich, aber gerade darum finde ich es umso wichtiger, diese Zeit immer wieder zu thematisieren.

Leonora Leitl: Held Hermann – Als ich Hitler im Garten vergrub
Tyrolia Verlag 2020
256 Seiten, zahlreiche
Illustrationen, 19,95 Euro
https://leonoraleitl.blogspot.com