Dinge, die miteinander sprechenArtistin

Die Avantgarde-Künstlerin und Filmemacherin Ulrike Ottinger spricht über das vergangene Ich und die richtigen Fragen.

Im Rahmen einer Premierentour ihres Films Paris Calligrammes besuchte die Filmemacherin Ulrike Ottinger das Österreichische Filmmuseum in Wien, das Crossing Europe Filmfestival in Linz sowie die Diagonale in Graz. Weltpremiere feierte der Film bei der Berlinale 2020, wo Ottinger auch die Berlinale Kamera verliehen wurde.
1942 geboren, ging Ulrike Ottinger 1962 als junge Malerin nach Paris und landete geldlos mitten in einer sozialen wie kulturellen Umbruchphase. Die titelgebenden Kalligramme, zu Deutsch: Figurengedichte, beziehen sich auf die Kunstformen, die miteinander reden. In ihrem Film wirft sie einen Blick zurück auf die eigene Biografie, die Freund_innen und Weggefährt_innen dieser Zeit, die Revolutionen, die ihren Anfang nahmen und die ihren Werdegang prägten, der Beginn einer intellektuellen wie künstlerischen Ideengeschichte waren. Das Gespräch fand bei Crossing Europe statt.

Wie ist das, wenn man das eigene Leben sichtet und in eine so prägende Phase zurückkehrt?

Diese Zeit in Paris hat mich eigentlich immer begleitet. Ich hab zu vielen der Menschen von damals auch weiterhin Kontakt gehabt und war auch immer wieder in Paris. Irgendwie hat sich das mehr und mehr verdichtet, auch weil es politische Veränderungen gab, die mich immer wieder an diese Zeit denken ließen, dass sich neue Ideologien geformt haben, auch bei uns, die auch ein bisschen zu kurz gegriffen waren. Als ich für die Deutsche Kinemathek etwas über Murnau schreiben sollte, hab ich begonnen, das aufzuschreiben. Das richtige Kino hab ich ja in Paris entdeckt. Als ich aufwuchs, konnte man in Deutschland kaum interessante Filme sehen. Diese ganze Filmkultur war ja durch die Nazizeit komplett abgebrochen. In Paris bin ich zu einer Filmenthusiastin geworden, in der Cinémathèque française. Murnau hab ich mit zwei älteren Herren gesehen, zwei deutschen Emigranten, mit meinem Professor Johnny Friedlaender, der das international bekannte Grafikatelier hatte, und mit Fritz Picard, dem Buchhändler und Antiquariats-Chef. Da habe ich zu schreiben begonnen, plötzlich war ein Drehbuch fertig. Da kam Algerien rein, die Pop-Art. Paris war damals sehr bürgerlich-bourgeois bestimmt, auch im Kunstgeschmack, es war eine sehr ästhetisierende Vorstellung von Kunst, und dann gab es diesen Aufbruch, die Pariser Pop-Art, die sich in der ganzen Welt verbreitete wie in den 20er-Jahren der Tango.

Ist es Ihnen schwergefallen, aus der Fülle an Material auszuwählen?

Ich bin nach Paris in die Archive gegangen, in die Bibliothèque nationale, erinnert habe ich mich vor allem an die Spielfilme von damals, dann hab ich mir Dokumentarfilme angeguckt, Reportagen, Interviews, endlos. Dann fing ich an zu schneiden, und das war die Hölle. Der Schnitt hat zwei Jahre gedauert. Der längste Film, den ich je gemacht habe, dauert zwölf Stunden, und den hab ich in drei Monaten geschnitten. Zuerst hatte ich die Idee, im Film so durch Paris zu flanieren. Das hab ich verworfen und nur diese ganz kleine Flâneurie an den Anfang gesetzt. Dann kam Algerien, ein unglaublich komplexes Thema, das damals in Frankreich sehr virulent war. Damals wurde gerade der Frieden mit Algerien geschlossen, das war eine ganz große Spaltung, ein Schisma in der französischen Gesellschaft. Meine Künstlerfreunde mussten ja alle in den Algerienkrieg, es sei denn, man desertierte, ging ins Ausland, und wenn man zurückkam, was einem Freund passiert ist, und das hat ihn wirklich zerstört, war man dieser unglaublich harten Militärjustiz ausgeliefert. Ich habe mich darauf konzentriert, was das mit uns gemacht hat, wie es in unserer künstlerischen Arbeit
Thema wurde.

Es sieht aus, als wäre die Zeit damals etwas durchlässiger gewesen.

Was damals grundsätzlich anders war: Es gab nicht so einen Hype um bekannte Leute. Ich erinnere mich, ich hatte Beckett irgendwo kennengelernt und bin einen Abend ins Falstaff gegangen. Ich war manchmal sehr einsam damals, als ich jung war. Er guckt mich so an und winkt mich an den Tisch, er saß da alleine mit seinem Bier. Beckett hat einfach nur geschwiegen, ich hab was getrunken, er hat was getrunken, wir haben so geguckt, ab und zu hat er was gesagt, es war eine sehr komfortable Situation. Ich fühlte mich da sehr aufgehoben in diesem Kreis.

Sie erzählen auch, wie die Stadt klingt, sich anhört, anfühlt. In Ihrer Kunst ist das nicht wichtig, die Form, ob es ein Film, ein Buch oder eine Ausstellung wird.

Das war’s auch nicht. Bevor dieses Interdisziplinäre so in den Fokus kam, war das eine Selbstverständlichkeit.
Damals gab es eine ganze Buchkultur, wo Künstler mit Poeten, Schriftstellern zusammengearbeitet haben, und ich würde nicht sagen, sie haben im klassischen Sinn die Bücher illustriert, das waren zwei Dinge, die miteinander gesprochen haben.

Wovon haben Sie damals gelebt in diesen frühen Jahren?

Zuerst war ich Au-pair. Ich hab ein Zimmer gefunden in den Hintergebäuden der polnischen Botschaft. Der polnische Botschafter hatte zwei Kinder, denen hab ich morgens Frühstück gemacht und sie zur Schule gebracht, dann bin ich ins Atelier gegangen. Und dafür hatte ich im 7. Stock ein winziges Zimmer, das sieben Ecken hatte und ein kleines Fenster mit Ausblick auf einen Park. Das war sehr schön, aber natürlich sehr schwierig, ich hab es sehr schwer gehabt. Später hab ich dann im Atelier Friedlaender auch ein bisschen unterrichtet, ab einem bestimmten Zeitpunkt kamen sehr viele Amerikaner nach Paris, und der Dollar war so hoch, das Zehnfache von einem Franc, dass selbst amerikanische Studenten anfingen, in den Galerien – die Grafik hatte damals eine andere Bedeutung – Radierungen und Serigrafien und Litografien zu kaufen, und plötzlich hab ich dadurch auch ein bisschen Geld gehabt. Dann hat die Bibliothèque nationale meine Sachen gekauft, da war ich natürlich stolz wie Oskar. Meine Mutter hat mir ab und zu auch ein bisschen was geschickt, heimlich.

Man glaubt als jüngere Generation immer, man hat einen Diskurs völlig neu erfunden. Aber Gespräche über Exotismus finden in Frankreich schon sehr lange statt. Das Thema hat Sie nie losgelassen.

Jede Generation glaubt das (lacht). Ich arbeite ja nach wie vor sehr stark daran, auch im Film davor, Chamissos Schatten, da gab es vier Stimmen und vier Epochen, die im Vergleich sind, und man sieht, was sich verändert hat in diesen fast 400 Jahren. Das ist auch ein bisschen meine Art zu arbeiten.
Paris Calligrammes ist natürlich auch über das Paris von damals, aber ich berichte heute mit meinen Erfahrungen darüber. Das war nicht ganz einfach. Ich wollte schon den Blick von damals auch haben, gleichzeitig aber meinen Blick von heute nicht verschweigen. Wie darüber einen Film machen?

Wie betrachten Sie ihr jüngeres Ich?

Ich hätte mir manchmal gewünscht, ich hätte damals schon gewusst, was ich heute weiß. Ich hätte diesen tollen Leuten, denen ich begegnet bin, vielleicht andere Fragen gestellt. Aber sie haben mir so viel erzählt, es war ja so, dass ich plötzlich ganz viele wunderbare Großmütter und Großväter hatte. Und gleichzeitig war ich mit meinen jungen, sehr oppositionell und revolutionär gesinnten Freunden zusammen. Und irgendwie hat mich dieses Gespräch mit den Leuten, die am eigenen Leib so viel erlebt haben, vor bestimmten irrationalen Radikalismen auch beschützt.

Was würden Sie heute jungen Menschen mitgeben wollen?

Das Wichtigste ist, dass man neugierig ist. Man muss für irgendetwas brennen, dann ist eigentlich schon alles gewonnen, weil dann macht man weiter. Irgendwo muss es anfangen.

www.ulrikeottinger.com

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