Dorf ohne Menschenvorstadt

Vor 150 Jahren war St. Vinzenz eine Hochburg der europäischen Glasproduktion. Heute ist es ein verlassenes Dorf, das zum Teil am Grund des Stausees Soboth liegt. Eine Reise ins Dreiländereck Steiermark, Kärnten, Slowenien.
TEXT & FOTOS: CHRIS HADERER

An manchen Tagen ist die Gegend so schön, dass es fast schon wehtut. Dann ist es wie an einem grünen Meer, mit Bäumen und Bergen als Horizont. Besonders im Winter hat man viel Zeit für die Aussicht, während man darauf wartet, bis – hoffentlich – ein Räumfahrzeug die Nebenwege der B69 freischaufelt, die in die kleine Ortschaft Soboth führen, die der Region ihren Namen gibt. Soboth leitet sich vom slawischen Wort potòk für Bach oder Fluss ab; auf die Gegend bezogen, ein «Ort der tiefen, steilen Bäche». Der Flachländer lernt im Dreiländereck Steiermark, Slowenien und Kärnten recht kompromisslos, das «viel Schnee» deutlich mehr ist als die fünf Millimeter, die in Wien zuverlässig den Verkehr zum Erliegen bringen. Und wenn es am Koglereck, in 1.347 Meter Seehöhe, wo man dem Himmel näher ist als dem nächsten Bankomaten, einmal donnert, fängt man an, die kleinen Sünden zu bereuen. Blitzt es auch noch, wartet man innerlich darauf, dass gleich die vier apokalyptischen Reiter über die Soboth-Passstraße brettern. Meistens sind es aber Motorräder, die für Abwechslung in der ländlichen Klang­kulisse sorgen: Der Pass Soboth gehört zur B69, die von Lavamünd in Kärnten nach Eibiswald in der Steiermark führt und auf der Biker_innen oft aus lauter Freude zu weinen beginnen (leider treibt einem auch die Unfallstatistik Tränen in die Augen, weshalb die Route weniger charmant auch als «Organspenderstrecke» bezeichnet wird). Etwa 18 Kilometer nach Lavamünd und drei Kilometer vor der Ortschaft Soboth wird aus dem grünen Meer überraschend ein blaues: der Stausee Soboth, 1.080 Meter über dem Meeresspiegel und etwa 80 Hektar groß. Die Grenze zwischen Steiermark und Kärnten läuft quer durch ihn hindurch: Die Imbissstation Charly’s Hütte im Norden ist in Kärnten zu Hause, das am südlichen Ufer gelegene Seecafé und die Staumauer in der Steiermark. Der 1990 angelegte Stausee speist das Kraftwerk Koralpe in Lavamünd, und im jetzt 80 Meter unter Wasser liegenden Höllgraben befand sich einmal die Ortschaft St. Vinzenz. Vor etwa 150 Jahren war dort eine der größten Glasmanufakturen der k. & k. Monarchie ansässig – geblieben sind eine Handvoll Häuser an einem der Zuflüsse des Stausees im Norden. Ein verlassenes Dorf, das wegen seiner Lage niemals in der «neuen» Welt ankam und das nur wegen seiner Artefakte nicht vollkommen in Vergessenheit versunken ist.

Landschaft mit Schatten.

Was von St. Vinzenz und der damaligen Glas- und Spiegelfabrik noch vorhanden ist, sind eine Kirche, das Herrenhaus, das Forsthaus, das Gebäude der Tischlerei- und Modeldrechslerei sowie das ehemalige Schulhaus, alle schön hergerichtet und von den Bediensteten des Prinzen von Croy, dem die halbe Gegend gehört, gehegt und gepflegt. Und so, wie bis heute keine vernünftige Autobahn in der Region angekommen ist, hat sich auch die Abschaffung der Adelstitel noch nicht bis in die rauschenden Wälder durchgesprochen. Aber: Carl Croy hat ein Herz für Mountainbiker_innen, die er laut der lokalen Bezirkszeitung gerne fördern möchte. Hinter dem Durchgang zwischen den Gebäuden schimmern Bäume, Blumen und ein sattes Grün; alles sehr gepflegt, als wäre gestern der Tourismusverband dagewesen. Ein malerisches Bankerl, als würde gleich der Postbus kommen; aber es ist nur der Briefkasten, der daneben hängt und sagt «Wenn’s wirklich wichtig ist, dann mit der Post». Das ehemalige Verweserhaus, in dem heute die Förster wohnen, erkennt man am Geweih, das viele der Croy’schen Besitztümer schmückt. Daneben plätschert die Feistritz, einer der drei Zuflüsse, die den Stausee speisen: an dieser Stelle eher ein Bacherl, das erst ein paar Meter weiter sein wahres Gesicht zeigt. Die Filialkirche St. Vinzenz ist markant, aber nur noch zu sehr seltenen Anlässen in Betrieb, daneben steht das obligate Hinweisschild auf die Glashistorie des Dorfes. Eine Landschaft, mit der auch Monet seine Freude gehabt hätte – überschattet vom Umstand, dass im Wald oberhalb der Ortschaft im Jahr 1965 ein 15-jähriges Mädchen erschossen wurde (der Mörder entkörperte sich danach selbst).

Fehlende wirtschaftliche Perspektiven.

Der Bau der Staumauer im Jahr 1990 und die Überflutung des Höllgrabens haben keine Geschichte ausgelöscht. Für St. Vinzenz war sie schon viel früher zu Ende, ungefähr in den 1940er-Jahren. Die Abgeschiedenheit der Region und die schlechten Verkehrsverbindungen bedeuteten das Todesurteil für die Glashütte. «Ursprünglich war es das Wasser, das die Menschen im Gebiet um St. Vinzenz sesshaft werden ließ», sagt Bernadette M. Tschreppitsch, die ein Buch mit Geschichten aus St. Vinzenz (der wolf verlag, Wolfsberg) geschrieben hat. «Die besondere geologische Beschaffenheit des Höllgrabens ermöglichte den Abtransport von Baumstämmen über die Feistritz nach Unterdrauburg (Dravograd), von dort auf dem Wasserweg der Drau mit dem Floß zum Schwarzen Meer. So gab es eine Exportmöglichkeit direkt aus den Wäldern in die ganze Welt.» Die Geschichte der Glasherstellung in der Region beginnt im Jahr 1687, als das Stift St. Paul eine erste Glashütte errichten ließ. Im Jahr 1838 waren mehr als 700 Menschen mit der Produktion von Hohl-, Tafel- und Spiegelglas beschäftigt, das selbst im fernen Moskau, in St. Petersburg und Versailles (wo heute noch ein Luster aus St. Vinzenz zu finden ist) großen Anklang fand. Spiegel aus dem Ort, der damals einen Spiegelglasofen, einen Temperaofen, einen Frittofen und vier Strecköfen beherbergte, wurden 1845 auf der österreichischen Gewerbeausstellung in Wien als «die größten bis jetzt in Österreich verfertigten Spiegelgläser» beschrieben, «in einem Stück geblasen, vollkommen rein, weiß und getreu». Glück und Wohlstand hielten allerdings nicht allzu lange an: Mangels Kohlevorräten und schnellen Transportwegen, begleitet von politischen Wirren am Balkan, wurde die Glashütte 1878 geschlossen. Aufgrund der verlorenen Arbeitsplätze begann eine schleichende Abwanderung aus der Region Soboth, dazu kamen politische Veränderungen. So wurde beispielsweise die nahe Ortschaft Soboth, die das heutige Bild der Region prägt, während Grenzkämpfen mit jugoslawischen Truppen im Jahr 1919 besetzt und geplündert. 1920 entschied sich die Bevölkerung im Rahmen einer Volksabstimmung für den Verbleib bei Österreich. Durch die neue Grenzziehung verschlechterte sich allerdings die wirtschaftliche Anbindung der Soboth, da die Region von Österreich aus nur noch über einen schlecht ausgebauten Fahrweg erreichbar war. Erst gegen Ende der 1930er-Jahre wurde die Straße bis nach Lavamünd ausgebaut, 1954 wurde sie in den Rang einer Landesstraße erhoben. Nach verschiedenen Umbauten wurde die Straße 1974 als «Südsteirische Grenzstraße» (B69) neu eröffnet. In St. Vinzenz lebten Ende der 1960er-Jahre noch etwa 300 Menschen, allerdings ohne echte wirtschaftliche Perspektiven. 1987 begannen schließlich die Arbeiten am Kraftwerk Koralpe, das nach der Sprengung eines Teils der B69 und der Errichtung einer Staumauer, über die die Straße heute führt, im Jahr 1990 fertiggestellt wurde. Seit 2010 dient der dabei entstandene Stausee Soboth auch als Pumpspeicher für das Kraftwerk. Seine Ufer sind ein beliebtes Bade- und Ausflugsziel für Leute, die es gerne etwas ruhiger haben, als es an den gar nicht so weit entfernten Kärntner Badeseen zugeht. Abgesehen von diversen Biker_innen-Aufmärschen ist es auch die Ruhe, die die Region auszeichnet: Man kann dort schwimmen, wandern, die regionale Küche genießen oder sich mit Kultur und Kunst beschäftigen. Für letzteres ist der Verein Sobothage zuständig, der das «Jakobihaus» betreibt, in dem unter anderem eine Dauerausstellung mit seltenen Glaserzeugnissen aus St. Vinzenz besichtigt werden kann.

Scheitern und Neuorientierung.

Geschichten aus der und über die Region gibt es viele; einige davon sind im Buch von Bernadette M. Tschreppitsch enthalten. Sie berichten von einer Welt, die heute kaum noch vorstellbar ist; von harten Wintern, langen Schul­wegen; von den Bemühungen, die Gegend wirtschaftlich zu erschließen. Sie erzählen vom Scheitern vieler Projekte und von einer Neuorientierung, die bis heute durch die geografische Lage der Soboth erschwert wird. Immer noch ist «Wasser ein Lebenselement», sagt Bernadette M. Tschreppitsch; beginnend beim Holzexport und der Glas­produktion bis hin zum Stausee, der Strom zum Exportprodukt gemacht hat. «Wer am Ufer des Stausees steht und auch seine Gedanken ganz still werden lässt, kann vielleicht die eine oder andere Geschichte aus der Vergangenheit von St. Vinzenz hören, die das sanfte Plätschern des Wassers erzählt.» Das geht leicht: einfach das Handy abschalten und die Augen schließen. Sie werden aus dem Staunen nicht herauskommen.

www.soboth.at