Drachen im HerbstDichter Innenteil

Wenn Mitte November der wiedererstarkte Westwind die letzten Blätter an dürren Zweigen erstorbener Bäume erzittern ließ (sie waren wie Zeitzeugen eines verblassten Sommers voller Abenteuer), wenn Wälder und Wiesen zur Ruhe kamen, der Himmel, mit grauen Wolkenfetzen verhangen, vom klammen Winter kündete und auf den toten Äckern der forsche Wind kein Zwitschern und Zirpen mehr duldete, dann war endlich wieder die Zeit der Drachen gekommen.

In lange Unterwäsche gepackt, schlüpften wir in unsere geflickten Cordhosen, die in dritter Generation für ereignisreiche Ausflüge wiederhergerichtet worden waren. Wir steckten unsere Köpfe und Bubenarme durch Fleecepullover, die unsere Haare knistern und zu Berge stehen ließen, verbargen unsere Köpfe deshalb ganz schnell in dicken Wollmützen und zogen unsere vernarbten Anoraks an. Zwei Paar abgenutzter Frotteesocken an unseren Füßen steckten wir samt den Cordhosen in schmutzige, aber gefütterte Gummistiefel.

So zogen wir an dunklen Nachmittagen mit unseren Drachen durch die kühle Luft die schmale Straße hinter dem elterlichen Haus hinunter. Sie führte, zwischen umzäunten Feldern hindurch, auf denen sich das kurze Gras graubraun im Boden verkroch, zu den toten Äckern, die das Ziel unseres Ausflugs waren (im Sommer hatten wir dort gerade noch die Erdbeeren des Gemüsebauern Herrn Karg stibitzt). Sie waren von einem morastigen Fuhrweg im Norden sowie einem kleinen Wäldchen im Westen umschlungen. Hinter dem Fuhrweg führte eine Brücke am Wäldchen vorbei über die leere Autobahn in den Nachbarort. Ein zu dieser Jahreszeit kaum benutzter Schotterweg grenzte die weite, offene Fläche von den umzäunten Feldern im Osten ab. Im Süden sah man hinter einer großen Streuobstwiese ein paar wenige Dachgiebel im Dunst der feuchten Luft versinken. Dahinter, weit entfernt, konnte man die Gipfel der mächtigen Berge im trüben Licht des Herbstes erahnen.

Den strammen Wind in unseren Gesichtern

Wir betraten den verlassenen Schotterweg. Das dumpfe Gras an dessen Rändern wucherte bis fast in seine Mitte. Doch die kalte Jahreszeit unterbrach vorübergehend den Versuch der Natur, zurückzuerobern, was einst ihr gehörte. Nach nur wenigen Metern bogen wir in den Morast des Fuhrweges ab. Hier war unser Territorium. Den strammen Wind in unseren Gesichtern, betraten wir es. Außer uns war an diesen Nachmittagen kaum jemand zu sehen. Nur selten verirrte sich ein bis ins Gesicht vermummter Radfahrer mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf auf den Schotterweg. Nur selten fuhr ein Auto die Brücke hinauf und verschwand leise knurrend auf der anderen Seite. Manchmal spazierte Frau Schwendinger mit ihren dick eingepackten Kindern im Schesenwagen vorbei.

Sie blieb ein paar Minuten stehen und bewunderte unser Treiben. Wir waren dann immer besonders ehrgeizig und ließen unsere Drachen noch härter am Wind segeln. Sie waren transparent, federleicht und stellten gefährliche Adler mit großen Augen oder wilde Hornissen dar. Unsere Drachen waren unerschrocken, wie der Sturm, der sie in luftige Höhen trug. Sie waren so unerschrocken wie wir.

 

Kulisse für unsere Abenteuer

Die Einsamkeit eines grauen Sonntagnachmittags bot die Kulisse für unser Abenteuer. Alles was wir brauchten, war die Kraft des Windes: So schnell wir konnten, rannten wir mit unseren Drachen an kurz gehaltenen Schnüren den Fuhrweg auf und ab. Schon nach den ersten Flugversuchen waren unsere Köpfe heiß und wir steckten unsere Wollmützen in die löchrigen Taschen unserer Anoraks. Beim dritten oder vierten Mal klappte es. Der Adler und die Hornisse stiegen tapfer empor! Die Windkraft riss hemmungslos an ihnen, zerrte energisch an ihren Flügeln, bis diese aufgeregt flatterten. Wir zogen dann fest an der Drachenschnur, gaben nur einen kurzen Augenblick später nach und ließen die Schnur von der sich in unseren Händen drehenden Kordel laufen, sodass die Drachen immer höher und höher stiegen. Als die Schnur ihr Ende erreichte und die Flügel unserer Himmelsstürmer knallende Geräusche von sich gaben und gar zu zerreißen drohten, war unser Glück vollends. Wir brüllten begeistert aus ganzem Herzen wie Sieger den Windböen ins Gesicht, wir lachten und konnten unseren Triumph kaum fassen. Unsere Drachen, die nun von der Thermik getragen, über unseren roten Köpfen kreisten, zeigten uns, dass wir frei und unbeschwert waren. Dort oben machten sie uns stolz. Sie waren das Symbol unserer gemeinsamen Erlebnisse, sie standen als Wappen unserer Kindheit, unserer Abenteurer-Dynastie vor dem Grau des Herbsthimmels. Durch sie entdeckten wir die Welt und machten sie zu unserer. Sie machten uns zu Drachenkriegern: Wir waren die Söhne des Westwindes und wir waren es in der Tat! Das Hochgefühl, das in unserer Brust schlug, war so wirklich und uneitel wie der Sturm selbst, der über uns hinwegfegte. Wir jubelten euphorisch mit ihm.

Wenn nach etlichen gefährlichen Manövern die Drachen mit wildem Getöse Richtung Boden donnerten, mit der Nase voraus heftig aufschlugen und in der nassen Erde vielleicht sogar stecken blieben, hätte es an diesem Nachmittag nicht besser laufen können. Es war der krönende Abschluss. Ihre Skelette waren robuster, als das ihnen die meisten zutrauten. Und war einer der dünnen Holzstäbe dennoch gebrochen oder die Haut gerissen, dann würden wir das bestimmt wieder hinbekommen!

Als die nahende Nacht das kalte Novemberlicht zu verdrängen begann, machten wir uns mit zerzausten Haaren, dreckigen Hosenknien und vollen Seelen auf den Weg nach Hause.

Dort angekommen, konnten selbst unsere glühenden Wangen und der Dreck unter den Fingernägeln nicht verraten, dass wir soeben die Welt erobert hatten. Auf die Frage «Wie es denn gewesen sei?», antworteten wir: «Gut.» Wir setzten uns schweigend zu Tisch und träumten ganz leise vom nächsten Westwind und den Abenteuern, die er mit sich bringen würde.

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