Drei TageDichter Innenteil

Drei Tage (Illustration: Silke Müller)

Erste Dämmerung fiel auf einsame leere Straßen, eine ­lange Metalllaterne mit ihrem runden Helm, gebeugt, ­leuchtete schwach aus ihrem senkrechten Bauch, ab und zu hörte man Schuhsohlen leicht schlagen, als würden sie ­einen Weihnachtswecker unter sich ­tragen. Viele wollten noch rechtzeitig zu ­ihren Liebsten, nur ein paar einsame Hundebesitzer ließen sich nicht hetzen. Sie übten ihre einförmigen Körperbewegungen aus. Wieder ein Jahr, das so schnell verging, und wahrscheinlich würde es so wie ­viele andere ­Jahre vorbeigehen, mit seinem transparenten Pinsel die farblosen Tage meines ­monotonen einsamen ­Lebens weiter einnehmen. Doch dieses ­Weihnachten war ganz anders. Ich saß ­alleine an meinem großen, braunen Wohnzimmertisch, der mit einer weißen Decke und einem goldenen Glitzertuch ­bedeckt war, über ihm viele bunte Weihnachtskugeln, die an einer Schnur hingen. Die kleine Krippe stand unbe­leuchtet, ­unauffällig auf dem ­hohen Kasten, der keine Türen besaß und aus dem statt Klamotten jetzt Kinderalben, DVDs und ein paar Bücher ­hervorblickten. Ein seltsames Gefühl, so ­alleine an ­einem Tisch zu sitzen, vor ­allem zu Weihnachten. Womöglich hätte ich mich sehr einsam gefühlt, doch irgendwie war ich Gott und Corona dankbar, dass mir genau diese Bescherung ­zuteil wurde.
Ich durfte das erste Mal dieser ­unsichtbaren Krankheit begegnen. Und obwohl ich sie früher ein wenig fürchtete, hatte ich jetzt keine Angst, wenn Gott, Medikamente und andere Dinge helfen sollten, musste ich nichts ­befürchten. Sollte Jesus ­entscheiden, bei ihm im Himmel Weihnachten zu feiern, hätte ich nichts dagegen. Das einzige, was mir ­Kopfschmerzen ­machte, war, dass meine Teenager-Tochter nicht einmal Spiegeleier ohne Schale brutzeln könnte, morgens den Wecker überhörte und ihren ­ganzen Lohn in drei Tagen verputzte. Und ­obwohl jetzt diese Krankheit leicht mit ihrer bedrohlichen Fahne winkte, machte mir ein anderer Besucher viel mehr Sorgen. Der zwar auch unerkennbar ist und dessen nächtliche Besuche ich seit dem 26. Oktober empfangen muss, ob ich will oder nicht. Ein aufdringlicher Fremder, der wie ein Dieb durch Fenster schleicht. Während sein unsichtbarer Körper nur leicht auf meinem Parkett knackst, sich unter meine warmen Tücher legt und meinen Leib als seinen Privatbesitz Stück für Stück einnimmt, bis ich aufgebe und mich in Liebeslust mit ihm vereine.
Danach betrachte ich unruhig mit schlechtem Gewissen mein «heiliges Zölibat», und statt der Peitsche hilft mir eine alte CD die Dämonen zu entlarven und sie aus mir und meiner Wohnung für immer zu verscheuchen … Während mein Herz unter seinem ­irgendwo in einem Asylheim unterwegs ist. Der Fremde verschwindet dann für ein paar Tage, um wiederzukommen.

Nächstenliebe

Und das nur, weil ich nicht nachdachte und ­Nächstenliebe ausübte. An diesem grauen Oktober-Tag, genau gesagt am Stephansplatz, wollte ich unter meinesgleichen sein und himmlische Tickets verschenken.
Er saß dort auf dieser kalten Beton­bank, in seiner dünnen, blauen ­Jacke, halb erfroren und verhungert, hoffnungsvoll wartend auf eine Rettung. Jetzt fand ihn ein Bruder in Christus und Landsmann dieses Fremden als ­Erster. Vor mir stand er jetzt, schilderte mir ­seine Lebensgeschichte. Dass er seit vielen Jahren flüchten musste, ein Fremder unter Fremden wurde, bis ­eines Tages eine christliche Familie sich liebevoll um ihn kümmerte und er vom muslimischen Glauben zum christlichen konvertierte. Er blickte mich mit seinen großen freundlichen ­Augen an, und immer wieder lachte er mich an, mit dem Lachen eines persischen Prinzen.
Wir beide fragten viele andere Christen, doch keiner wollte ihn nehmen. Er wohnt sonst in Deutschland und ich wohne in Wien. Ja, dann nahm ich ihn mit in meine bescheidene Wohnung, nur für eine Nacht.
Seine große Brille betonte sein intelligentes Aussehen, während seine dunklen, großen, geheimnisvollen ­Augen leuchteten. Der helle Nougatton seiner Haut und die große schöngeformte Stirn, seine seitlich rasierte Frisur mit weißen Härchen, ein schwarz gefärbter Zopf, Vollbart und volle Lippen. Seine mageren Arme und sein schmales, zierliches Antlitz blieben für mich unscheinbar … Er war von einem Licht der Demut, Besonnenheit und Ruhe getragen. Er weckte in mir eine Mutter, die sich schon längst einen Sohn gewünscht hatte. Es war erfrischend, sich mit jemandem nach langer Zeit auszutauschen, mit Hilfe des Google-Übersetzers, und endlich nicht mehr allein essen zu müssen …
Denn in letzter Zeit aß ich weniger, ich machte mir wenig Mühe, allein die Tafel für mich zu decken, meistens aß ich im Stehen, würgte ein paar Stücke runter, um meine Medikamente ­danach zu nehmen und nicht umzufallen. Ich hörte auf, Esther zu zwingen, mit mir die Ess-Traditionen in der Küche ­abzuhalten. Weil es meistens am Ende eska­lierte und sie letztendlich ihre Gewohnheit durchsetzte, alleine in ihrem Zimmer mit Handy meine frisch gekochte tägliche Mahlzeit zu genießen.

Scheherazade

Ich war erfreut, den fremden Reisenden in meiner bescheidenen Küche zu empfangen, um endlich etwas Neues zu erfahren, anderes als Altweibergeschichten. Er saß jetzt dort wie eine männliche ­Scheherazade, der gerade seine Biografie-Märchen zu ­schreiben beginnt, und ich durfte die erste Ausgabe bekommen. So schrieb er zwar nicht auf Blatt und Papier, sondern in sein kleines schwarzes ­Handy und reichte es mir, löschte und protokollierte wieder.
Dass er im Iran Jura fertig ­studierte, dass er auf einer Demo von der Polizei verprügelt wurde – er zeigte mir eine große Narbe – und Hals über Kopf fliehen musste und seine Eltern mit Tränen und großen Sorgen zurückließ, während er von der Geheimpolizei ­gesucht wurde.
Zweiundzwanzig Tage unterwegs ohne Brot, in Griechenland viermal mit dem Gummistock verprügelt und ohne Grund ins Gefängnis ­gesteckt, dort nahmen sie ihm sein Handy und seine Schuhe weg. Er musste in die Türkei barfuß zurück, um erneut mit Schleppern übers Meer zu fahren, um dieses Mal von bulgarischen Hunden gebissen zu werden, um sich weiter ­mutig mit blutigen Beinen und blutigem Herz auf den neuen, beschwerlichen Weg nach Europa zu begeben.

Tragische Geschichte

Ich hörte mit Tränen in den Augen seine tragische Geschichte, während seine Augen jetzt matt und müde die Vergangenheit suchten und er blass und erschöpft wirkte. Ja, ich hörte ihn wie eine Mutter ihrem Sohn zuhört, mit Schmerz und großem Mitleid für diese junge Seele, die gerade zweiunddreißig wurde und durch eine seltsame Ruhe und Besonnenheit die Ausstrahlung eines weisen Mannes besaß, der dem Schwert der Mullahs entkam und weiter vom weißen Mann gepeinigt wurde, und statt einem Schwert, Geduld, Demut und Bedacht mit sich trug …
Ich gab ihm zu essen, wusch ­seine Jacke, gab ihm saubere Bettwäsche, ­alles, was eine Mutter ihrem Kind geben könnte, denn schließlich ist ­dieser ­Junge nur zwei Jahre älter als eine meiner Töchter. Er nahm mit freudigem und demütigem Herzen jede ­Hilfe, die er bekam. Am nächsten Morgen verschwand er. Und es schien so, als wäre ich ihm niemals begegnet. Ich verwischte jede Spur von ihm und war wieder froh, meinen alten Routinen nachzugehen.
Dann rief er wieder an, nach ein paar Tagen. – «Mamma!»
Ich lud ihn ein in meine alte Glaubensgemeinde und fühlte, dass etwas nicht stimmte. Da war er wieder in der Jacke von Esther mit meinem ­Sackerl in der Hand, während seine Jacke nur halbtrocken war und einen müffelnden Gestank von sich gab. Ich ­hatte ein schlechtes Gewissen, sodass ich die ­Jacke wusch und seinen halbleeren Rucksack mit viel Zeug füllte, der jetzt wie ein schwerer Stein an ihn hing.
Er hörte dort von Jesus, doch die kostenlose Übernachtung blieb aus. Der Mann ist Christ in der Theorie, doch praktisch bekommt er nur einen kostenlosen Toast und Kaffee, um das Gewissen der Brüder zu besänftigen.
Ja, da war er wieder in meiner kleinen ­Küche, wusch mein Geschirr, schnitt Gemüse und Salat, schmiss ­meinen Mist in die Tonne, kostete ­meine ­Soßen, kürzte mein langes Haar, ging mit mir Piña Colada trinken in den 18. Stock mit seinem hinkenden Bein und ließ nicht zu, dass ich bezahle, auch wenn es sein letzter Zwanziger war. Ein Mann mit Stolz und Würde.
Insgesamt kannten wir uns nur drei Nächte, dann ging er weg, und ohne zu wollen, nahm er mein Herz mit sich, während seines bei mir blieb, und so ­geschah etwas, das keiner von uns ­beiden wollte oder jemals voraussah.
Jetzt sind so viele Tage vorbeigegangen, während ich alles ­probiere, die restlichen Stücke von ihm, die mir ­geblieben sind, aus meinem Herz raus zu schneiden, und desto mehr ich ihn von mir wegdrücke, gegen ­diese Gedanken arbeite, mich selber als Frau immer von neuem kreuzige, ­meine Vernunft einschalte, umso stärker spüre ich seine Gedanken, seinen Atem, sein Verlangen, sein Wesen, das mich ständig sucht. Als würde er die Nacht überreden, ihm einen unsichtbaren Körper zu schenken, um in meiner Nähe zu sein.

Ein Phänomen?

Ich fragte mich oft, ob ich mit einem Phänomen zu tun habe, einem Magier, der die Kunst der ­unsichtbaren Liebe praktiziert. Die ersten Tage waren so stark, dass ich ihn spürte, während ich in der Küche stand und gar nicht an ihn dachte, oder wenn ich auf der Straße ging. Es war wie eine Magie, die ich in allen meinen vierundfünfzig Jahren niemals gespürt hatte. In diesem Moment wünscht man sich die Zeit zurückzudrehen, ­keine Kinder zu haben und niemals die Gesetze Gottes zu kennen und ihn in diesen gottverlassenen Heimen aufzusuchen und in seine Arme zu fallen, die Zeit zu vergessen, mit ihm auf Flügeln ganz weit weg an einen Ort zu fliegen, wo es keine Uhr und kein Geburtsdatum gibt, keine Kinder, Freunde, Familie – nur uns beide, um eine Seele und ein Atem zu werden.
Und trotz dieses groß erscheinenden Wunsches versuchte ich gleichzeitig alles, was mit ihm zu tun hatte, zu verdrängen, ihn zu vergessen, dieses Liebesfeuer zu löschen, diese erotischen Gedanken und dieses Verlangen zu stoppen.
Ich schmiss alles von ihm weg, verwischte jede Spur, blockierte ihn am Handy, löschte jedes Bild, auf dem er drauf war. Es machten mir andere ­Sachen nicht so viel aus als die tragische Erkenntnis, dass ich diesen kleinen orangenen Stick ins Klo schmiss und damit für immer diese hundert Seiten, die die schönste Liebesgeschichte erzählten, in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie liegt in der Kloake tief unten, und mit der Zeit vergeht sie …
Als ich am nächsten Tag mit einem hohlen, erschöpften, zerbrechlichen Körper aufstand, begegnete ich im Spiegel einer alten Frau, die keine Spur mehr von Jugend trug und auf eine Zeit wartet, in der sie selber vergessen wird, wer sie einmal war …

Gewidmet Merhdad Jadidi