„Du kannst nichts. Also geh zur Post“Heroes

Erwin Lechner noch einer aus dem "Augustin"-Urgestein

Erwin Lechner, 44, ist seit 1998 „Augustin“-Verkäufer, also Mitglied des „Urgesteins“, wie sich die Langjährigen selber nennen, um scherzhaft ihren Elite-Status hervorzukehren. Erwin redet in einer Stuttgarter Färbung, wie KennerInnen der deutschen Dialekte unschwer diagnostizieren. Wie das klingt, ist am Montag, 16. Oktober, in Radio Augustin zu hören. Auch „Augustin“-Urgesteine zeigen Nerven. Erwin jedenfalls hat sich eine Bierdose zum Interview mit Radio & Print mitgenommen. Hin und wieder nimmt er einen Mutmacherschluck, aber der Respekt vor dem Mikro bleibt. Am Ende der Fragerei ein tiefes Durchatmen: „Könnt ihr damit was anfangen?“Ich bin in Wels geboren, aber im Raum Stuttgart aufgewachsen, nachdem meine Mutter einen Deutschen geheiratet hatte, der Mechaniker bei Mercedes war. Meinen richtigen Vater hab ich erst zweimal im Leben gesehen. In Deutschland begann ich in der Post zu arbeiten. Meine Mutter – sie starb vor fünf Jahren – hatte mir nämlich eingeredet: Du kannst nichts, du hast zwei linke Hände. Geh zur Post, dort muss man nichts können.“ Auf die Zwei-linke-Hände-Metapher wird Erwin Lechner im Gespräch öfter zurückkommen; es ist evident, dass er sein „patschertes Leben“ in einen Zusammenhang mit dem pädagogischen Versagen seiner frühen Bezugspersonen bringt. Diese hätten mit ihren ständigen Versager-Vorwürfen gegen ihn ein Muster der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen geliefert.

Doch Erwin ist weit davon entfernt, die Verantwortung zur Gänze auf andere abzuwälzen. Was er heute bereut: Die Lust, mit einem Freund durch Nordeuropa zu trampen, war größer als das Sicherheitsdenken. Er verließ den damals laut Volksmund sichersten Arbeitgeber des Landes. Im Alter von 20 Jahren kehrte Erwin Lechner nach Österreich zurück. Nicht freiwillig. Er wurde abgeschoben, nachdem er einige „Jugendsünden“, wie er die Delikte heute nennt, begangen hatte. Zum Beispiel wurden Autos „ausgeborgt“ und nicht mehr zurückgegeben. Kein Mercedes darunter …

Zurück in Österreich wurde Erwin Lechner zum Heeresdienst eingezogen. Länger als vier Wochen hielt er es nicht aus. Das Kasernenbett wurde gegen ein Bett in der Psychiatrie ausgetauscht. „Ich hab die Ausbildung nicht gepackt, ich hab die Waffe nicht gepackt. Ich ertrag‘ nicht einmal ein Taschenmesser in meiner Hosentasche“, sagt Erwin. Zum Landstreicher geworden, zog es Erwin nach Wien. Er lebte in WCs, in Parks, auf der Donauinsel, in der Waggonie am Praterstern und im Caritasheim. Romantisieren wolle er das Zelteln auf der Donauinsel nicht. Die ewigen Kontrollen, denen man ausgesetzt sei, und die Probleme der Körperpflege zerstörten jeden Ansatz von Idylle; dass man immerhin von Ansätzen reden könne, sei den lauen Sommerabenden unter freiem Himmel zu verdanken, an die sich jeder Ex-Insulaner (die weibliche Form erübrigt sich hier: die Sandlerszene auf der Donauinsel wird als maskulin beschrieben) gerne erinnert.

Mit einem seiner Donauinsel-Zeltkollegen, ebenfalls Augustin-Verkäufer, unternahm er einen Rom-Trip: „Wenn die Bahnfahrt nicht so unendlich lang gedauert hätte!“ Seine Erfahrung sei, dass man in der italienischen Hauptstadt nicht so streng gegen Obdachlose im öffentlichen Raum vorgehe wie in Wien.

Was tun mit imaginären zwei linken Händen?

„70 bis 80 Firmen“ habe er durchlaufen, schätzt Erwin. Am längsten hielt er es bei McDonalds aus. Hat ein Jahr lang Fleischlaberl garniert. Er bestätigte alle, die ihn hänselten, er habe zwei linke Hände. Wir fragen ihn, woran alle seine Versuche, im Arbeitsleben Fuß zu fassen, tatsächlich scheiterten. Erwin führt das auf das generelle Problem, mit Chefs und Mitarbeitern zu kommunizieren, zurück. Am liebsten arbeite er solo „in einer Ecke“, wo er es mit niemandem sonst zu tun habe. Ein Job bei der MA 48, temporär wie jeder andere, kam seiner „Sozialphobie“ noch am ehesten entgegen.

Der Alkohol wird wohl ein Faktor der Inkompatibilität Erwins mit den Zwängen der Leistungsgesellschaft gewesen sein. Er habe schon im Alter von vier Jahren zu trinken begonnen, überrascht Erwin seine Gesprächspartner. Die Kinder der Pflegefamilie, bei der er aufwuchs, hatten Klein-Erwin an den Most gewöhnt. Dass er die Sucht bis heute nicht überwunden hat, streitet Erwin Lechner nicht ab. Allerdings gelinge ihm heute hin und wieder auch, tagelang ohne Bier auszukommen.

Erwin Lechner hat die Erniedrigung des Bettelns auf den Straßen Wiens erfahren. Am Schottentor oder in der Rotenturmstraße war ein Tageserlös von damals 200 Schilling schaffbar: ein durch Selbstentblößung erarbeitetes Zusatzeinkommen zur Sozialhilfe. Als er von Straßenmenschen den Namen „Augustin“ hörte, ergriff er die Chance, vom Schnorren wegzukommen. Mit Stolz schnorren geht nicht, mit Stolz „Augustin“ verkaufen geht, meint Erwin, denn das Image des „Augustin“ sei erfreulich.

„Ich hab mir vier Plätze aufgebaut und davon zwei wieder aufgegeben. Ich konzentriere mich auf U6, Niederhofstraße und auf die Galleria Landstraße. Dort habe ich meine hundertfünfzig Stammkunden. Muss man ja haben nach acht Jahren „Augustin“-Kolportage!“, bietet er Einblick in den Vertriebsalltag.

Heute wohnt Erwin Lechner, aus seiner Vergangenheit mit einem hohen Schuldenberg belastet, in einer winzigen Gemeindewohnung, die er im Winter nicht beheizen kann – „In jedem Schlafsack wär‘ es dann wärmer, aber eine Wohnung ist eben eine Wohnung. Ich weiß nicht, wie ich Geld für eine Gasheizung auftreiben könnte.“ Abends legt er sich seine Peter-Maffay-Platten auf, darunter das berühmte Album „Revanche“ aus dem 80er-Jahr, das den Ohrwurm „Über sieben Brücken musst du gehen“ enthält, was uns zu einer Testfrage verlockt: wem Maffay diesen Song gestohlen habe … „Von Stehlen keine Rede. Das Lied ist von der DDR-Band Karat, und von der hat Maffay die Erlaubnis zum Covern bekommen“, bewältigt Erwin unsere harte Nuss bravourös.

Wenn Erwin „Urlaub“ vom „Augustin“-Verkauf macht, fährt er mit dem Zug nach Bratislava oder nach Znaim. In der tschechischen Grenzstadt fühlt er sich besonders wohl. Beim Morawa am Hauptplatz könne man um drei oder vier Euro ausgezeichnet essen. Weil er demnächst in Wien einen Slowakisch-Kurs absolvieren werde, könne er den Aufenthalt in diesen Nachbarstädten bald noch mehr genießen.

„Beim ,Augustin‘ bleib ich, bis ich sterbe. Das ist mein letzter Wille“

Der „Augustin“ habe sein Leben verändert. Aus einem durch die Bank „Menschenscheuen“ – Erwin führt diese Eigenschaft auf seine Kindheitserfahrung zurück, als Taugenichts mit zwei linken Händen, als ewiger Versager abgestempelt worden zu sein – sei ein kontaktfähiger Mensch geworden. Er sei ein ruhiger, in seiner Tätigkeit nicht sehr aktiver, geschweige denn aggressiver Verkäufer, vielleicht gerade deswegen entstünde eine gute Gesprächsbasis mit Stammkunden. Der Vertrieb der Straßenzeitung stelle eine Beziehung zwischen Menschen her – und eine Kette solcher kommunikationsfördernden Situationen muss selbst beim einsamsten Wolf zu gewissen Mutationen führen. Die wiederbelebte Kontaktbereitschaft ist noch nicht soweit gereift, dass Erwin eines der Geselligkeitsangebote des „Augustin“ angenommen hätte. Am ehestens käme das Fußballteam in Betracht. Bei einer Seniorenmannschaft des „Augustin“ mitzuballestern, könnte sich der eingefleischte Bayern-München-Fan („obwohl ich aus Stuttgart bin“) ganz gut vorstellen.

„Beim ,Augustin‘ bleib ich bis ich sterbe. Das ist mein letzter Wille“, stellt er heute fest – im Wissen, arbeitsamtlich nicht mehr als vermittelbar zu gelten. „Er hat den Weg gesucht, aber ihn nicht gefunden“, soll auf der Kranzschleife stehen, die ihm die „Augustin“-KollegInnen aufs Grab legen sollen, scherzt er. Und wenn beim Begräbnis „Siehst du die Sonne nicht über dir“ von Peter Maffay erklingen würde, ginge es ihm doppelt gut in seiner Grube. Doch die Ausschaufler können warten. Erwin Lechner will noch viele Znaimer Weinfeste und noch viele Siege von Bayern München erleben.

teilen:
Translate »