Literatur
Jetzt hat sie mich verlassen, Dubravka, meine Freundin, meine Zwillingsschwester aus Sarajevo. Sie hatte genug von dieser Welt, ich ahne es, obwohl sie es natürlich nie so gesagt hat. Nein, auch als es schon dem Ende zuging, war sie wie immer.
Noch auf ihrem Totenbett, das sie längst erkannte, während wir alle noch hofften, hat sie uns hinters Licht geführt, hat uns zum Lachen gebracht mit ihrem trockenen Witz und den knappen Bonmots, die niemals Zweifel offen ließen und immer ins Schwarze trafen, hat uns wie immer liebevoll auf die Schaufel genommen und uns das Gefühl gegeben, bis ins Innerste durchschaut und dennoch gut aufgehoben zu sein.
In drei Monaten komme ich wieder, versprach ich, als ich ging. Daheim überschlug ich meine Finanzen, rechnete aus, wie viel ich ihr monatlich schicken könnte, um ihre Pension aufzubessern. Um die zweihundert Euro hätte sie zu erwarten nach einem Leben voller Arbeit. Niemand kann von diesem Betrag leben, auch nicht in Bosnien-Herzegowina. Nicht die Zigaretten werden mich umbringen, hat Dubravka gemurmelt. Da überkam mich erstmals der Verdacht, dass sie der Sache überdrüssig war.
Damals überhörte ich solche leisen Zwischentöne noch, doch nun ist sie gestorben, ist ein spätes Opfer des Krieges geworden, dieses unfassbaren Krieges, den niemand für möglich gehalten hatte. Der andere Krieg, der auch lange nach seinem Ende weiter mordete und die Seelen vergiftete und mir meinen Vater viel zu früh genommen hat, hätte der letzte sein sollen auf unserem Kontinent, für immer. Unvorstellbar war es, jemanden aus meiner und gar meiner Kinder Generation sagen zu hören: «damals unter der Belagerung, damals im Krieg». Wie fern wähnten wir uns solch vergangener Barbarei! Und doch ist es geschehen, mitten in Europa, und es ist noch nicht zu Ende. Der Krieg quält die Überlebenden und tötet heimtückisch weiter.
Voll junger Leute seien die Krebskliniken in Sarajevo, sagte Dubravka.
Ich habe diesen Krieg lange ignoriert, wollte ihn nicht wahrhaben. Dass er wirklich stattfand, ja sogar zu uns kam, bemerkte ich zuerst an den alten bosnischen Dorfmenschen, die plötzlich auf unseren Parkbänken saßen, stumm, regungslos, verstört. Dann füllten sich die Wohnungen von Kollegen, über deren Abstammung ich mir vorher nie Gedanken gemacht hatte, weil sie hießen, redeten und sich benahmen wie wir, mit Angehörigen aus den Kriegsgebieten. Eine Kollegin musste plötzlich mit drei geflüchteten Verwandten, die sie kaum kannte, ihre Zimmer-Küche-Wohnung teilen. Ich gab ihr Geld und beruhigte so mein Gewissen. Der Traum, der da offenbar aufs Brutalste zerbrach, war schließlich ein bisschen auch der meine gewesen.
Geh runter zum Tito, hatte mein Vater immer gesagt, wenn ihm die linken Theorien, die ich ihm unterbreitete, auf die Nerven gingen. In der Tat war die Grenze zu Jugoslawien nur eine halbe Autostunde entfernt. Das Land zerfällt, wenn Tito stirbt, sagte er überdies, und ich glaubte ihm kein Wort. Ich fühlte mich Jugoslawien auf unerklärliche Weise verbunden. Auch bei uns wurde eine slawische Sprache gesprochen, nicht gerne gesehen von der Mehrheit, aber immerhin, ich wuchs in ihrem Klang auf. Die ersten Gastarbeiter, armselig gekleidete, einsame Männer, die in ihrem Quartier hinter vorhanglosen Fenster Karten spielten und Bier tranken, taten mir leid wie arme Verwandte. Als ich Jugoslawien zum ersten Mal bereiste, war ich angenehm überrascht von den modernen Städten, den sprachgewandten, weltoffenen jungen Menschen, der Gastfreundschaft, die mir überall begegnete, und insbesondere vom Chic und der Eleganz der Frauen, die sich überdies in zahlreichen hohen beruflichen Positionen fanden.
Dubravka war eine von ihnen. Auch sie war gereist in jenen Tagen. Überall war sie mit Respekt und Wohlwollen aufgenommen worden als junge Studentin aus Jugoslawien, als Angehörige eines stolzen, weltweit anerkannten Staates, der an der Spitze der internationalen Bewegung der Blockfreien stand. Später hat sie sich persönlich geschämt für das, was in ihrem Land angerichtet worden ist, und ich verstand das nur zu gut. Sie hat gelitten in ihrem neuen kleinen Staat, dessen Einwohner um Visa Schlange stehen mussten und nirgends mehr willkommen waren.
Es entging mir nicht, dass es auch Reibereien gab im jugoslawischen Vielvölkerparadies. In Wien hörte ich, wie Hausmeister und Bauarbeiter einander hinter vorgehaltener Hand als etnik oder Ustaa beschimpften. Kurz nach Titos Tod sah ich rund um den Ohridsee albanische Fahnen aus mazedonischen Fenstern wehen. Damals stand in Pritina, der Hauptstadt des Kosovo, zum Zeichen des Investitionswillens der Zentralregierung ein riesiges Luxushotel, das niemand brauchte, während in manchen Stadtteilen der Unrat neben der Straße hinabfloss, weil es noch keine Kanalisation gab. Nur Tito habe noch den Deckel auf dem dampfenden Kochtopf gehalten, hieß es.
«Gerüchte habe es gegeben, dann Schüsse »
Dann kam der Krieg. Niemand hat mir je erklären können, wie er tatsächlich begonnen hat, wie es denn wirklich war am ersten, am zweiten, am dritten Tag. Alle, die ich danach fragte, zuckten nur mit den Achseln. Gerüchte habe es gegeben, dann Schüsse, dann den einen oder anderen Mord, dann wieder Gerüchte. So sei es gewesen. Plötzlich waren Nachbarn zu Todfeinden geworden.
Dubravka war während der Kämpfe nach Tuzla geraten, hat es nicht mehr zurückgeschafft nach Sarajevo. Alleine hat sie in einem verlassenen Haus mit zerschossenen Fenstern gehaust, angewiesen auf die Almosen aus den Hilfspaketen, um nicht zu verhungern. Man könne sich vorstellen, wie entwürdigend das sei, hat sie gesagt, und wie kalt der Winter ohne Heizung und wie schwarz die Nacht, wenn es nirgendwo Licht gibt, auch nicht den leisesten Schein einer Kerze irgendwo am Horizont. Mit der Kalaschnikov im Arm sei sie nachts am Boden gelegen, damit sie nicht Schüsse trafen, die jederzeit durchs Fenster hereinpeitschen konnten. Sie hätte sich nicht mehr wie ein Mensch gefühlt, hat sie später räsoniert und dabei ungläubig den Kopf geschüttelt wie eine, die gar nicht mehr glauben kann, dass sie das selbst erlebt hat. Ich weiß bis heute nicht, ob das alles war. Das Schlimmste aus dem Krieg verschweigt man, das sagte nicht nur mein Vater.
Ihr kleiner Sohn war während des Krieges in Sicherheit, bei Bekannten in Wien, bei fremden Leuten in einer fremden Stadt. Erst als Teenager bekam Dubravka ihn zurück, nach Jahren, die den beiden später fehlten. Er wolle nicht erwachsen werden, klagte sie oft. Sein Herz hat es Wien nicht verziehen, dass er da sein musste, auch wenn sein Kopf weiß, dass es ihn gerettet hat.
Im Krieg hat Dubravka zu rauchen begonnen so wie alle, sogar Predrag Pai, der ehemalige Nationalspieler, der Serbe aus Sarajevo, der dem Wahnsinn zu trotzen versuchte, indem er mitten in der Belagerung eine Fußballschule für alle Kinder gründete, egal aus welcher der plötzlich so bedeutenden «Ethnien» sie stammten. Nach dem Krieg hatte er achthundert Kinder unter seinen Fittichen, aber keine Mittel mehr für eine Krankenversicherung für sich und seine Frau.
Als ich Dubravka traf, war der Krieg fast vier Jahre vorbei. Friedenstruppen und Hilfsorganisationen tummelten sich im Land, junge Abenteurer aus Amerika gaben Nachhilfe in Politik und Wirtschaft. Wir lernen Civil Society, sagten die gestandenen bosnischen Frauen mit gespielter Schulmädchen-Attitüde, und ihr Blick zeigte mir, dass mein Eindruck nicht täuschte, es war eine Farce. All die Frauen, die nun von unbedarften Leuten aus dem Westen belehrt wurden, hatten vor dem Krieg leitende Positionen innegehabt. Wieso sie da mitspielten, fragte ich. Weil wir auf das Geld angewiesen sind, sagten sie achselzuckend.
Achtzig bis neunzig Prozent der Hilfsgelder landeten nicht bei den Bedürftigen, sondern in der Administration der NGOs und in den Taschen so mancher ihrer Angestellten, erklärten sie mir hinter vorgehaltener Hand. Warum sie es nicht aufdeckten, fragte ich naiv. Weil sie dann die zehn bis zwanzig Prozent auch nicht mehr bekämen, antworteten sie trocken.
Ich war eine der ausländischen Expertinnen, angeheuert von der NGO, bei der auch «locals» arbeiteten, unter anderem Dubravka. Bei einem Abendessen in Mostar lernte ich sie kennen. Wir saßen einander gegenüber, in einem Lokal neben der berühmten Brücke, die damals noch in Trümmern im Wasser lag. Jetzt ist sie wieder aufgebaut, doch immer noch zieht sich angeblich eine «ethnische» Trennlinie durch die alte Stadt. Ich mochte Dubravka sogleich. Sie lachte und sagte dauernd «nema problema», mit gespielt arrogantem Gesichtsausdruck und einer wegwerfenden Handbewegung, mit der sie, wie ich später oft mit Vergnügen beobachtete, menschliche Unzulänglichkeiten und anderes, mit dem sich eine Beschäftigung nicht lohnte, stets großzügig hinwegwischte. Ich dachte an das, was ich in den letzten Tagen gesehen hatte. Ruinen, wo einst Schulen, Hotels oder Wohnanlagen gewesen waren, Häuser, in der Mitte auseinandergebrochen, die Badewanne, die Waschmaschine noch aus dem zerstörten Gemäuer halb heraushängend wie Eingeweide, die aus einem malträtierten Körper quellen, Häuserwände, Balkonverkleidungen geschwärzt vom Granatenfeuer, durchsiebt von zahllosen Einschusslöchern, eines neben dem anderen, im Abstand von nur zwei, drei Zentimetern Zeugen einer schier unermesslichen Zerstörungswut, eines unvorstellbaren Hasses.
«Die NGOs setzten die einheimischen Mitarbeiter auf die Straße»
Bald zogen die internationalen NGOs weiter in neue Krisengebiete, überließen Bosnien seinem Schicksal, setzten die einheimischen Mitarbeiter auf die Straße. Auch Dubravka verlor ihren Job. Ich lud sie ein nach Wien. Sie kam, hatte aber kein Interesse an der Stadt und ihren Sehenswürdigkeiten, schlug vielmehr ihr Lager am Sofa vor dem Fernseher auf und verweilte dort tagelang. Manchmal wälzten wir phantastische Pläne für Projekte und Geschäfte. Nur eine leise Ahnung bekam ich von dem, was in ihrem Inneren vorging.
Zurück in Sarajevo bewarb sie sich um Stellen, fast zwei Jahre lang vergeblich. Dutzende von Vorstellungsverfahren musste sie durchlaufen, bevor ihr endlich eine «Bestätigung» mit einem Stempel meines Wiener Büros zu einen Job bei einer internationalen NGO verhalf. Ich bescheinigte ihr, nicht nur eine ausgewiesene Wirtschaftsfachfrau zu sein, sondern auch geschult in westlichem Denken. Letzteres schien den neuen Arbeitgebern besonders wichtig.
Sie kam wieder zu Besuch, gab mir das Geld zurück, das ich ihr geliehen hatte, und kaufte sich ein Parfum von Chanel und ein paar elegante Sachen zum Anziehen. Diesmal besichtigte sie Wien wie eine Touristin. Langsam werde ich wieder ich selbst, sagte sie.
Bald hatte sie die Leitung des bosnischen Büros ihrer NGO inne, versetzte ihre Geschäftspartner aus dem europäischen Norden mit ihrem Charme und der scheinbaren Leichtigkeit, mit der sie die Arbeit und das Leben nahm, in Entzücken und gab den jungen Leuten, die das Glück hatten, bei ihr zu arbeiten, Mut und Unterstützung und die Chance zu zeigen, dass sie gut genug für die internationale Bühne waren, auch wenn sie aus einem wackeligen Staat kamen, von dem sie selbst nicht viel hielten. Am Monatsanfang verteilte sie ein halbes Dutzend Kuverts mit Geld an Verwandte, Freunde und Nachbarn, die ohne Einkommen waren.
Dubravka nahm nun ihre eigene Einteilung der Bevölkerung ihres neuen Staates vor. Es gäbe die «Normalen», die den ethnischen Wahnsinn nicht mitmachten, und die anderen. Nicht normal fand sie zum Beispiel jene, die neuerdings an islamischen Feiertagen laut hupend und die grünen Fahnen des Propheten schwenkend durch die Stadt fuhren und ihre Frauen veranlassten, die Burka zu tragen, etwas zuvor nie Gesehenes in deiner Stadt. In so manchem Dorf in der Nähe stand kurz nach Kriegsende bereits eine blütenweiße Moschee, während die Häuser zerstört waren und die Menschen noch in Containern hausten. Alles vom Ausland finanziert, bemerkte sie finster.
Trotzdem schien es nach einer Weile aufwärts zu gehen mit ihrem Staat und ihrer Stadt. Kriegsruinen wurden abgerissen, Dächer gedeckt, Häuser saniert. Granatenhülsen wurden in kleine Vasen umgeformt und in der Baarija als Souvenir verkauft. Film- und Jazzfestivals lebten wieder auf und lockten prominente Künstler und Besucher in die Stadt. Die Innenstadt mit ihren zahllosen Straßencafés füllte sich wieder, auch mit Einheimischen. Nachbarn und Freundinnen hatten wieder Arbeit, langsam schien sich das Leben zu normalisieren. Fast unwirklich erschienen die weißen Grabmale ringsum auf den Hügeln, Tausende an der Zahl, diese stummen Zeugen unvorstellbaren Grauens, der noch nicht lange zurücklag.
Wie viel sie mir wohl vorgegaukelt hat in jener Zeit? Bei meinem letzten Besuch erfuhr ich, wie es wirklich um sie stand, und nicht nur, was ihre Gesundheit betraf. Ausgezehrt von der Chemotherapie und ein Schatten ihrer selbst lag sie mit müdem Lächeln da und rückte zaghaft mit den Tatsachen heraus. Seit zwei, drei Jahren schon war die Situation wieder höchst bedrohlich geworden für sie. Die europäischen Auftraggeber ihrer NGO kürzten beständig die Mittel, quälten mit Bürokratie, zahlten monatelang die Gehälter nicht aus, stellten die Schließung des bosnischen Büros in Aussicht. Sie lebte bereits von ihren Ersparnissen, und die Aussichten für die Zukunft waren niederschmetternd.
«Der Staat lässt alle im Stich»
Diesmal war es todernst, denn nun war sie nicht mehr jung. Niemand kann beliebig oft von vorne beginnen, der Markt schreit nicht nach Menschen jenseits der fünfzig, ohne Kapital, und dazu stets unter Verdacht, den alten Idealen anzuhaften. Der Staat, der einst so viel versprochen hat, kann heute nicht mehr viel tun, hat keine Mittel, lässt alle im Stich. Seit Ausbruch des Krieges habe keiner mehr eine ruhige Minute gehabt, hat Dubravka einmal trauriges Resümee gezogen. Und dabei vernahm ich einen düsteren Anflug von Erleichterung, es bald hinter sich zu haben.
Die Menschen, denen sie einst geholfen hat, waren bei ihr in ihren letzten Wochen. Sie haben sie umsorgt, waren rund um die Uhr an ihrer Seite. Dann hat der Krieg sie dahingerafft, ermordet, leise, so wie er es immer macht, Jahre und Jahrzehnte, nachdem die lauten Kampfhandlungen eingestellt worden sind. Mir hat er eine Freundin, eine Schwester genommen.