Duell der Wiesenvorstadt

Wie der Fußball nach Wien gekommen ist

Die ersten Wiener Kicker – wer waren sie, wo und wie haben sie gespielt? Hannes Gaisberger ging diesen Fragen, die er sich selbst gestellt hatte, nach.

Foto: Irmgard Derschmidt

Über den Beginn des Ballesterns in unserer Stadt ist relativ viel bekannt. Das verdankt sich vor allem der nicht zu unterschätzenden Vereinsmeierei der ersten Fußballer. Der Ursprung des Sports, wie wir ihn heute kennen, liegt etwa in einer Rugby-Regelstreiterei unter englischen Studenten. Am 26. Oktober 1863 spalten sich in einer Londoner Taverne jene, die den Ball fortan nicht mehr in die Hand nehmen wollen, von ihrem Muttersport ab und gründen die Football Association. Deshalb wird der Sport im deutschen Fachvokabular der damaligen Zeit Assoziations-Fußball genannt.

Wie man es auch nennen will, die Erfindung ist ein Hit. In wenigen Jahrzehnten tritt die anfängliche Zerstreuung der britischen Upperclass seinen Siegeszug durch die Gesellschaftsschichten und hinaus in die Welt an. Als Botschafter dient das Personal des Empires, Soldaten, Internatsschüler, Ingenieure und Buchhalter der damaligen Weltkonzerne.

Die Gärtner von der Hohen Warte.

In Wien, wo auch damals alles ein bisserl länger gedauert hat, sollen englische Gärtner 1894 erstmals gegen den Ball getreten haben. Nathaniel Meyer Freiherr von Rothschild, der kunstsinnige Spross der Bankiersfamilie, hatte sich auf der Hohen Warte einen schönen Garten mit Gewächshäusern und allen erdenklichen Schikanen geleistet. Für die fachgerechte Betreuung der Anlagen holte man Experten aus dem Mutterland der Rasenpflege, und so haben englische Gärtner ihren Dienst beim Herrn Baron versehen. Sie haben dort ein anglophiles Ambiente vorgefunden: Franz Joli, der Sohn des Garteninspektors, hat von seinem Englandaufenthalt die Begeisterung für Fußball mitgebracht und damit seinen kleinen Bruder Max angesteckt. Die Engländer William

Beale und James Black boten sich als Gegner für die Söhne des Chefs an. Dieser soll dem noch recht informellen Kickerl bald einen Riegel vorgeschoben haben, wie Karl Langisch in seinem Standardwerk Geschichte des österreichischen Fußballsports gewohnt spitzfindig formuliert: «Da aber der Herr Garteninspektor, trotz seines rasch entflammten Interesses für das neue Spiel – nach wenigen Tagen fungierte Vater Joli schon als Schiedsrichter – nicht zulassen konnte, daß seine Gärtner den Rasenteppich mit den Fußballschuhen lädierten, statt ihn auf den Glanz herzurichten, mußte er das Spielen auf der schönen Wiese des Rothschild-Gartens untersagen.»

Heute lässt sich zwischen Döblinger Bad und Heiligenstädter Park, auf dem sich die großzügigen Gärten befunden haben, keine schöne Wiese mehr ausmachen. Die Anlage wurde arisiert, zerbombt, teilweise bebaut oder in den Heiligenstädter Park eingegliedert. Das Pförtnerhäuschen der Rothschildgärten in der Geweygasse Nr. 6 scheint das letzte sichtbare Überbleibsel dieser Ära zu sein. Es verströmt einen Hauch von Cottage-Feeling, dazu sind die Wappen des Hauses Rothschild und das Logo der Pfadfinder angebracht. Die Gruppe 83 Baden Powell hat in dem kleinen Zeitdokument Quartier bezogen. Auch für die Gruppe der Gartenkicker, die 1894 einen Platz für ihren neumodischen Sport brauchten, gab es damals einen Zufluchtsort. Die Kuglerwiese wurde für den Verein First Vienna Football-Club, der sich alsbald gegründet hat, zur ersten Heimstätte. Der Kader speiste sich aus etlichen Engländern, dazu mehrere Wiener wie die Joli-Brüder oder Georg «Geo» Fuchs, dem Obmann des Vereins. Auf der Kuglerwiese wurde auch das erste offizielle Fußballspiel Österreichs ausgetragen. Am 15. November 1894 empfing man den Vienna Cricket and Football Club, ein Team, das nur aus in Wien lebenden Engländern bestand.

Lost Ground Kuglerwiese.

An dieser bedeutenden Stätte kann man sich schon lange nicht mehr in fußballhistorische Tagträume stürzen. Bereits ab 1900 wurde das Gelände für die sogenannte Künstlerkolonie auf der Hohen Warte von Josef Hoffmann mit imposanten Villen bestückt. Wo noch wenige Jahre vorher der Ball rollte, hielt fortan Alma Mahler-Werfel Hof. Heute ist der Bereich der Kuglerwiese (Geweygasse, Wollergasse, Steinfeldgasse) ein ruhiger Ort, Typ Botschafterviertel mit reichlich SUVs und Wachpersonal. Schwer vorstellbar, wie die kickenden Pioniere hier vor über 100 Jahren dem Ball nachgejagt sein sollen. Noch schwerer kann man sich vorstellen, wie der Sport damals ausgesehen haben mag.

Zeitgenössischen Berichten zufolge kann man von einem sogenannten Rudelfußball ausgehen, bei dem ordentlich gestoßen und getreten worden ist. Da auch das Publikum von Regeln oder Taktik wenig Ahnung haben konnte, wurden vor allem spektakuläre

Aktionen wie «Kerzen», Pressbälle und Gewaltschüsse bejubelt. Die Kicker von der Hohen Warte gingen in jenem November 1894 als Verlierer vom Platz. Dass man bei der Vereinsanmeldung den englischen Cricketern zuvorgekommen war und das «First» im Namen tragen durfte, war jedoch ein süßer Trost. Und der Mythos der ballverliebten Gärtner als Importeure ist natürlich auch charmant.

First Ground Jesuitenwiese.

Man darf jedoch annehmen, dass die bereits zwei Jahre als Cricket-Club existierenden Engländer im Prater auch Fußball gespielt haben. Der Journalist, Aufschneider und Nazikollaborateur Max Leuthe, der später als Mac John das erste nicht-englische Mitglied der Cricketer werden sollte, will als Kind einem solchen informellen Kickerl beigewohnt haben. Er und seine Freunde hätten auf der Jesuitenwiese Indianer gespielt, «als wir durch eine Gruppe erwachsener Männer mit kurzen Hosen und Kappen gestört wurden […]. Sie hieben drei kleine Stäbe in den Boden, schritten Distanzen ab, nahmen dann einen eigenartigen längeren ‹Pracker› in die Hand und begannen mit einem harten Ball (daß er hart war, haben wir gespürt, als ihn einer von uns an den Kopf bekam) ein unserem ‹Kaiserball› ähnliches Spiel.»

Kaiserball dürfte mit Völkerball vergleichbar sein, damals wie heute eher ein Spiel für Kinder, wie Leuthe anmerkt: «Wir fanden es höchst seltsam, daß erwachsene Leute Ball spielten, und wunderten uns, daß ein erscheinender Wachmann, als man ihm ein Papier vorwies, gegen diesen Unfug nicht einschritt. Wir hatten keine Ahnung, daß wir dem ersten Training des ‹Vienna Cricket and Football Club› beigewohnt hatten. Obwohl die Cricketer im Gegensatz zur First Vienna anfangs unter sich bleiben wollten, haben sie vom ersten Tag an die Fußballbegeisterung der Wiener geschürt, wie Leuthe in seinen Erinnerungen fortfährt: «Als dann am nächsten Tag dieselben Leute einen großen Ball mit den Füßen stießen, waren wir schon ein wenig begeistert und qualifizierten uns, nachdem wir die Angst vor dem großen Ball überwunden hatten, als Ballen-Schanies.» Natürlich sind die Namen jener Pioniere bekannt, etwa Gandon von der Gasgesellschaft, Reverend Hechler von der englischen Kirche oder Mister Lowe, Direktor der Hutstumpenfabrik Böhm am Brillantengrund. Für den ehemaligen ÖFB-Historiker Langisch besteht kein Zweifel: «Sie waren die Männer, die mit dem englischen Rasensport in Wien begannen.»

Ein derart klares Urteil scheint aus der Distanz von bald 125 Jahren nicht mehr möglich. Dem Mythos der kickenden Gärtner sollte man jedoch gleichberechtigt jenen der ballverliebten Vertreter und Manager zur Seite stellen, die für ihre Firmen und Institutionen in die Welt reisten, den Fußball im Gepäck. Ob und wie man dieser Männer und ihrer historischen Taten gedenken sollte? Man kann Plaketten anbringen, man kann aber auch die Phantasie spielen lassen: Schließen Sie die Augen, denken Sie an einen zünftigen Zweikampf, einen Pressball, gefolgt von einer Kerze, die sich gewaschen hat. Bravo! Bravo!

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