Durchs Parlament treiben lassenvorstadt

Die Innenräume des Parlamentsgebäudes haben rund 20 Studierende für angewandte Fotografie und zeitbasierte Medien der Universität für angewandte Kunst Wien am Beginn der Sanierungsphase fotografiert. Daraus entstand der Bildband Temporäre Unordnung, der 782 Fotografien enthält. Lea Sonderegger steuerte beinahe ein Drittel aller Abbildungen bei.

INTERVIEW: REINHOLD SCHACHNER
FOTOS: LEA SONDEREGGER

Wie frei konntet ihr euch im Parlament bewegen?
Lea Sonderegger: Am Anfang konnte man sich ganz frei bewegen – und sich leicht verirren, was ich sehr schön gefunden habe. Ich habe mich von einem Raum in den nächsten mit der Kamera in der Hand einfach treiben lassen und wusste nicht mehr, wo genau ich war. Nach den ersten Begehungen war dann immer jemand von der Parlamentsdirektion als Begleitung dabei, und als die Bauarbeiten dann richtig angelaufen sind, musste man sich sehr viel mehr anpassen. Es gab dann eine Sicherheitseinschulung und auch nur noch geregelte Termine und Zeitfenster. Ich habe hauptsächlich mit der Großformatkamera fotografiert, was irrsinnig viel Zeit in Anspruch nimmt, da man damit sehr genau arbeiten muss. Oft schaffte ich in zwei Stunden nur vier, fünf Fotos.

Hast du Motive inszeniert? Es sind welche darunter, bei denen ich kaum glauben kann, dass du nicht eingegriffen hättest. Ich denke dabei an die Aufnahme der offenen Tür, aus der Dämmwolle hervorquillt, oder an das Telefon in einer schmalen Nische zwischen zwei Säulen.
Ich habe nichts inszeniert, ich habe alles so vorgefunden. Jedes Mal wenn ich hingegangen bin, war es wieder anders. In manchen Räumen sind anfangs noch Möbel und Bilder gewesen, die mit der Zeit weggekommen sind. Es ist alles weniger geworden und mit diesen Veränderungen ist es sehr spannend geblieben.

Bei einigen Fotos zeigst du explizit Kombinationen aus alt und modern, etwa zeitgenössische Möbel und Einrichtungselemente in ehrwürdigen Räumen.
Es gibt riesige pompöse, prunkvolle Räume mit Kronleuchtern und tollen Farben, aber es gibt auch viele kleine Büros und unauffällige Räume. Wenn man diese Mischung, diesen starken Kontrast erwischt, wird es spannend. Es war auch meine Intention, den Umbruch festzuhalten, wie etwa bei der Tür, aus der das Dämmmaterial hervorkommt. Im Herbst 2017, als ich mit dem Projekt begonnen habe, fanden auch Nationalratswahlen, aus der die ÖVP-FPÖ-Regierung hervorgegangen ist, statt – und viele Demonstrationen hat es gegeben. Daher steht diese Arbeit für mich auch sinnbildlich für eine Umbruchzeit beziehungsweise für einen reparaturbedürftigen Zustand.

Die Parlamentsdirektion ist Mitherausgeberin dieses Fotobandes. Habt ihr im universitären Rahmen das Thema Instrumentalisierung der Kunst durch die Politik behandelt?
Dieses Projekt war ganz frei, das heißt man konnte entscheiden, ob man mitmachen will, bzw. was man machen will. Ich interessiere mich allgemein für Architektur und speziell für Räume, was sie erzählen oder welche Machtstrukturen sie erkennen lassen. Im Parlament konnte ich auch viele Symbole und Gestaltungsdetails auf Möbeln finden, die für Macht oder Weisheit eingesetzt werden. Mit dem bereits erwähnten politischen Umbruch fand ich dieses Projekt sehr passend.

Von einem starken Interesse für Architektur bin ich ausgegangen, denn alle Serien, die ich von dir gesehen habe, stehen in diesem Kontext, etwa jene übers AKH. Was hat dich dazu veranlasst?
Ich habe es als freies Projekt angefangen, weil ich ein großes Interesse an diesem Ort hatte und ich die Tristesse, die von der Architektur [des AKH] ausgeht, wahnsinnig spannend finde. Dann wurde, ungefähr einen Monat später, auf der Uni das Jahresthema «Monster» ausgegeben. Mit diesem Hintergrund habe ich daran weitergearbeitet. Mich interessierte das Monströse an diesem gewaltigen Bau, den man in Wien wohl von überall aus sehen kann. Ich wollte, wie schon beim Parlament, auch beim AKH keine direkte Kritik üben, sondern dokumentarisch, sehr sachlich bleiben, aber man sieht den Fotos schon an, dass es sich dort um eine Maschinerie und einen Massenbetrieb handelt. Die Aufnahmen legen das offen, mehr aber nicht. 

Parlamentsdirektion & Universität für angewandte Kunst Wien (Hg.):
Temporäre Unordnung. 782 Abbildungen aus dem Parlamentsgebäude im Leerstand
De Gruyter 2020
288 Seiten, 39,95 Euro