DurchsichtigDichter Innenteil

Es regnet stark. Von den Büschen und Bäumen tropft das Wasser, Regenduft liegt schwer in der Luft. Ich besuche meine Mutter, 88, dement und seit zwei Jahren verstummt. Sie hat gebissen, um sich geschlagen, geschrien, hat HeiminsassInnen attackiert, hat es nicht mehr ausgehalten in ihrer sprachlosen Isolation. Jetzt ist sie hier gelandet. Ich gehe langsam durch die parkähnliche Anlage, zögere meine Ankunft hinaus. Mir ist ein bisschen mulmig es ist mir, als beträte ich eine Welt, in der, schrecklich und bezaubernd zugleich, alles ein wenig ver-rückt ist. Natürlich überrascht mich das nicht, denn ich bin im Steinhof.Meine Mutter freut sich, dass ich komme. Sie ruft eines der drei ihr verbliebenen Wörter: Danke! Danke! Die anderen beiden sind Ja und Nein. Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand, will ihr was erzählen. Eine kleine, zarte, uralte Frau stellt sich vor uns hin und schiebt ihr Gesicht 20 cm an meines heran. Das sind ja alles keine Betten, das sind ja Fragmente!, fährt sie mich an.

Den folgenden Monolog der alten Dame im Steinhof, im psychiatrischen Krankenhaus, habe ich mir in Fragmenten notiert, weil mich die Mischung aus Poesie und Pragmatismus tief traurig gemacht hat.

Jaaa, in einem richtigen Spital, da haben s schon ordentliche Möbel, aber in so einem durchsichtigen Spital, da haben sie nichts, nichts! Das einzige, was ich noch gelten lasse, ist das Klo. Und vielleicht die Dusch. Sonst ist da ja nichts, alles ist weg, nichts ist da, niemand ist da, alle meine Sachen sind weg. Nur ich bin noch da, und ich bin auch schon weg. Sie haben alles weggeräumt, alles, was ich gehabt hab, aber wurscht, sollen sie es haben, dann nehm ich es halt wem anderen weg! Und dann kommen fünf riesige Männer wegen so einem Würschterl wie mir, fünf solche Lackeln, und die fünf Heimhilfen, die saugen dann alles auf und wischen alles weg, und wenn die mich mit der Bahre runtertragen die fünf Stockwerk, dann sag ich, einer allein soll mich tragen, einer allein muss das doch schaffen! Und dann fragen s mich: Haben Sie eh Ihren Schlüssel mit?, und dabei haben die ihn selber eingesteckt, und den geben sie dann im Spital dem Portier, und der gibt ihn dann der Frau Doktor, und die gibt ihn der Schwester, und die gibt ihn dann in ein Kasterl und sperrt ihn ein, und wenn man von einem Spital ins nächste kommt, immer im Kreis, dann kommt der Schlüssel immer mit, und wenn Sie Glück haben wenn Sie Glück haben, sag ich, dann bekommen Sie ihn wieder, wenn Sie irgendwann wieder nach Hause kommen. Da haben die fünf Heimhilfen dann gesaugt und gewischt! Ich kann ja nirgends hin, ich kann ja nicht gehen, ich wohn im 5. Stock, und der Sachwalter, dieser Sachwalter!!! Aus nichts macht der Berge! Der hat sich ein Auto gekauft, ein Haus hat er sich gekauft, einen ganzen Friedhof hat er sich gekauft! Ich hab das ja alles nicht gewusst! Soll er sichs nehmen, das ganze Geld, mir is wurscht, ich brauch ja nichts mehr, und die letzten Jahr gehen auch noch in die Binsen, alles fehlt, nichts ist da! Ich will ja nur auf Englisch was sagen! Suchen Sie sich einen Menschen, dem man vertrauen kann, und ich sage Ihnen, Sie werden keinen finden. Und jetzt ist er vier Wochen in Urlaub! Da brauchen Sie gute Ohren Meine Ringe! Nichts ist da, nur ich, ich hab nur noch mich! Bei der Bank braucht man jetzt überall eine Unterschrift, da unterschreiben, sagen die immer, und ich bin ja schon so alt, und alles ist durchsichtig, ich kann ja gar nicht unterschreiben! Da werden sie dann schnell ganz böse, weil sie nach Haus gehen wollen, aber man wartet und weiß nie, ob sie jemals ankommen, weil die ganze Stadt ist voller Ampeln, und sie kommen nimmer heim, auch wenn sie mit dem Auto fahren, und ich wart auf sie und wart, und niemand kommt heim! Ich hab keinen Mann, ich hab keine Kinder, ich hab keine Schwester, ich hab keinen Bruder, ich hab keine Enkerl, ich hab keine Mama, keinen Papa, ich hab keine Großmutter!!! Ich hab ein Grab. Da liegen alle. Alle ich hab das gezahlt bis 2011, alles bezahlt! Und wenn ich dann noch fünf Jahre leb, dann kostet das nur mehr die Hälfte. Ein Grab aus Steinen. Wenns mir dann nur den Schlüssel wieder geben, 2016, da muss ich Vertrauen haben. Ich hab das ja alles nicht gewusst. Nichts mehr da, alles weg. Keine Betten, nur Fragmente, da kann man ja nicht schlafen! Ich kann gar nimmer schlafen. Alles ist so durchsichtig, das hab ich nicht gewusst! Ich kann die Fische in der Donau sehen. Ich will nicht unterschreiben. Du, halt, du, bleib stehen! In deinem Rucksack sind die Steine, die mir dann fehlen, wenn du weg bist!

Sie starrt mich herausfordernd an: Ich habe gerade meinen Rucksack geschultert; die Besuchszeit ist um, ich muss gehen. Sie greift nach meinem Rucksack, und ich trete einen Schritt zurück, weiß nicht, wie ich reagieren soll. Doch die alte Frau hat sich schon wieder abgewendet, hakt sich bei meiner Mutter ein, und gemeinsam gehen sie in den Schlafsaal, mit kleinen Trippelschritten, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Meine Mutter wirkt verstört. Sie umklammert den Arm der anderen Frau, sieht auf und spricht den ersten ganzen Satz seit langer Zeit: Ich hab das alles nicht gewusst! Ich zögere, will etwas sagen, doch dann drehe ich mich um und gehe hinaus in den Dauerregen. Es tropft von den Bäumen, Dunst liegt in der Luft. Die Steine in meinem Rucksack wiegen schwer, als ich Steinhof verlasse.

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