Über die Uraufführung Der Letzte Mensch im Hamakom Theater
In einem Anfall von Reminiszenz ging ich tatsächlich im Juni zu einem Casting ins Hamakom Theater im zweiten Wiener Bezirk beim Nestroyplatz, und zwar für das Stück Der letzte Mensch von Philipp Weiss. Man braucht dafür wirklich gute Nerven, ein intaktes Gefühlsgerüst. Ich hatte also ein Einzelvorsprechen bei der Regisseurin des Stückes Ingrid Lang. Ich setzte mich Unbekanntem nach zehnjähriger Theaterabstinenz aus, um zu wissen, wo ich hingehöre und wohin nicht. Wieso das? Ganz einfach: weil ich das Theater liebe. Unabhängig davon, was ich an struktureller Gewalt und Rücksichtslosigkeit erlebt habe, bleibt die Liebe. Sind wir Menschen nicht ein Wunder? Allerdings war bald klar, dass das Parkett für mich als Schauspielerin brüchig geworden ist. Als Sängerin nicht, da kann ich darauf spielen, tanzen, das ist mein Ausdruck, meine Stimme, meine unmittelbare Kraft. Ich bin eben nicht nur Schauspielerin. Es ist mir – ich kann es nicht anders sagen – zu wenig; zu wenig eigene Stimme, zu wenig direkt, immer die Bühnen-Sprache zwischen mir und dem, was ich rüberbringen will, eine Barriere des Kopfes, der so schwer auszuschalten ist auf der Bühne. Theater geht selten vom Kopf in den Körper der Zuschauer_innen. Es braucht viel dazu. Aber das Hamakom ist sicher eine gute Adresse für anspruchsvolles und politisches Theater, ein Möglichkeitsraum, wie der Autor Philipp Weiss die Zukunft nennt. Dieser Möglichkeitsraum Hamakom feiert heuer sein 10-jähriges Jubiläum.
«Wo nahm das Neue seinen Anfang? Vielleicht in der Fähigkeit, wieder zu träumen in einer traumlosen Welt.»
(Philipp Weiss, Der letzte Mensch, 2019)
Philipp Weiss´ Stück ist eine Ansammlung wissenschaftlicher prä- und postapokalyptischer Termini und starker Narrationen. Es trägt viel von einem Lehrbuch in sich, gleich einem Kompendium bedrohlicher Welt-Szenarien einer ungewissen Zeit, genannt Zukunft. Gott-gleich ertönt auch eine monologisierend belehrende Stimme aus dem Off wie von einer Kanzel, und dieser Text ist bedeutungsschwer mit Fingerzeig. Warum es eine weibliche Stimme ist, die männlich verzerrt wurde, entzieht sich mir, wo doch der Autor im Stück sinngemäß etwa sagen lässt: «Frauen werden die Weltordnung wiederherstellen.» Auch an dieser Stelle hätte ich gerne ausschließlich Frauen gehört. Wenn schon, dann Göttinnen.
Alle drei Personen, die Haupt-Körper in diesem Stück, sind weiblich, hager und blass. Ihre Augen blicken mit einer Mischung aus erstarrtem Entsetzen und Gefühllosigkeit in den Raum hinein, wo wir Zuseher_innen quadratisch aufgereiht herumsitzen. Sie kommen unserem Blick nicht aus und erfahren eine Utopie, deren Zukunft bereits abhanden gekommen ist, die keinen Spielraum mehr zulässt. Philipp Weiss verwendet Wörter wie Verschuldungsorgien, parasitäre Ordnung, die sehr intensiv wirken (können), wenn man ihnen mittels Inszenierung viel Zeit lässt. Das hat hier gefehlt: Zeit. um zu verarbeiten, um die eigenen Bilder im Kopf zu generieren. Denn das ist sinnlich, und das braucht das Theater, dass Sinnliches im/in der Zuschauer_in entstehen kann, wenn es schon nicht auf der Bühne zu erleben ist. Denn die versprachlichten Bilder des Autors sind definitiv gewaltig und lösen etwas in einem/einer aus. Im ersten Teil bis zur Pause wird man eingetunkt in einen überlangen Textblock, einen düsteren Monolog, gespielt von Theresa Martini, hingebungsvoll dargestellt in einer schwarzen Box mit projizierten Videos, aber in jenem Theater-Ton, der nicht entschieden ist zwischen Kunstsprache und Authentizität. Ich will das so nicht sehen und hören. Ja, Text zu performen ist schwer. Es kam mir vor, als ob jemand weiß, wie man auf einem Instrument spielt, es aber nicht gestimmt oder die falschen Saiten aufgespannt hat. Diese Interpretation der Partitur erzeugte die üblichen Theatertöne. Theresa Martini hat die Rolle während der Proben von einer Schauspielerin, die ausstieg, übernommen, ich kenne die Schauspielerin persönlich, möglicherweise liegt hier ein wiederum zeitliches Phänomen; die Dauer einer Auseinandersetzung, das Sich-Zeit-Lassen im Prozess des Schöpferischen gänzlich ohne Zirkuspeitsche, Machtspiele und Druck. Aber ich weiß genau, das ist in der Realität des Arbeitsalltags und einer Verbeamtung von Kultur nicht immer möglich.
Ich schreibe ungern Kritiken, weil ich zwangsläufig jemanden verletze, und ich entschuldige mich im Vorhinein dafür. Aber was soll eine halbherzige Replik? Ich kann nur von meiner professionellen Warte aus schreiben. In diesem Fall war die Zeit bis zur Pause elendslang, und einige Leute hinter mir hatten das Theater verlassen. Ich blieb und war sehr überrascht vom zweiten Teil, der mich hautnah erwischte. Ästhetisch und künstlerisch beeindruckend sind die Videos, voller Poesie – und Zeit. Davon hätte ich wirklich gerne mehr gesehen. Das war eine Sprache, in die ich eintauchen konnte und die bei mir ankam. Mitten ins Herz. Alles ist Tempo und Frequenz.
Die glühende Sonne des Nordpolarmeeres
Der letzte Mensch entwirft drei hypothetische Verläufe des 21. Jahrhunderts und, innerhalb dieser, mögliche Leben der Hauptfigur Liv van der Meer. Sie treibt im Kollaps-Szenario auf einem aus Müll zusammengeflickten Floß unter der glühenden Sonne des Nordpolarmeeres und driftet in einer technisch transformierten Welt transzendent durch den Asteroidengürtel des Sonnensystems. Ana Grigalashvili performt hier wunderbar mithilfe von Spiegelungen. Sie schwebt im Raum. Bewegt sich schwerelos. Auch ihre Sprache hat etwas Schwereloses. Überhaupt leisten alle drei Performerinnen Enormes.
Text und Proben haben allen schlichtweg alles abverlangt. Zuletzt schwimmt Liv im Utopie-Szenario in der Tiefsee als Hybrid Mensch-Maschine-Koralle-Oktopus. Diese Bilder haben mich fasziniert. Philipp Weiss führt Mensch und Tier zusammen, auch die Idee des Hybrids aus Mensch und Zitronenfalter erregte in mir – endlich Humor! – ein zartes Lächeln. In dieser Inszenierung durch Ingrid Lang wird das Auftragswerk, das sich eingehend mit Natur und Technik befasst und auf dem Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen (Suhrkamp 2018), stringent durchplant zur Uraufführung gebracht. Man spürt, dass Lang ihr Handwerk kann.
Interessant ist auch das vielfältige Rahmenprogramm, das sich dem Klimawandel und seinen Folgen widmet: Exodusphantasien der Menschheit ins Trans- und Posthumane sowie alternative, lebensfreundliche Zukunftsphantasien. Keine schlechte Idee nach so einem Abend. Im Interview spricht der Autor von «einem radikalen gesellschaftlichen Wandel, vergleichbar mit der alles umstülpenden Industriellen Revolution. Möglich wird dieser Wandel durch den teilweisen Zusammenbruch des alten Systems, also durch das Ende des Parasitären Zeitalters – ein Schock, der die Menschheit zusammenrücken lässt und einen Neubeginn erlaubt. Was sich allem voran verändert, ist das menschliche Naturverständnis. Statt die Natur als etwas Losgekoppeltes, als ewig auszubeutendes Außen zu betrachten, beginnt die Utopie mit der Möglichkeit der Symbiose. Die rettende Verwandlung setzt auch die Fähigkeit zu globaler Kooperation voraus – konkret in Form eines Weltparlaments – und eine befreiende imaginative Kraft, nämlich die wiedererlangte Fähigkeit zu träumen».
Orte, Weltteile und Generationen
«Wussten Sie, dass vor 20.000 Jahren der Meerspiegel 120 Meter unter dem heutigen Niveau lag? Wussten Sie, dass man den Ärmelkanal zu Fuß zu den Britischen Inseln überqueren konnte? Wussten Sie, dass vor 10.000 Jahren etwas höchst Ungewöhnliches passierte? Das Klima stabilisierte sich», erzählt Philipp Weiss. Wir leben also in einer sehr kurzen gerade zu luxuriösen Weltzeitspanne, in der wir das Glück haben, diese Art von Zivilisation sowohl positiv als auch negativ, entwickelt haben zu können. Wir haben Wissen und Strukturen von Generation zu Generation tradiert. Dieses Holozän, unsere Geschichte auf Erden, ist fragil geworden. Permanent wird in das Erdgeschehen eingegriffen. Das führt zu drastischen Veränderungen. Wie können wir den Sinn am Leben angesichts dessen erhalten? Weiss spricht von Imagination und Kooperation und drückt es so aus: «Alles, was die Menschheit erreicht hat, basiert auf Kooperation, auf einem Bund, über Raum und Zeit hinweg, zwischen Orten, Weltteilen und Generationen. Wenn wir diese Tugenden wieder aktivieren können, gibt es Hoffnung. […] Sprache spricht uns vom Gegebenen frei. Wir müssen nichts hinnehmen, wie es ist, wir können uns vorstellen, wie es sein könnte! » Ich würde also vorschlagen, ins Hamakom zu gehen und sich mit dem spannenden Material auseinanderzusetzen. Verleihen Sie Ihrer Fantasie Flügel. Denken Sie Ungedachtes. Sprechen Sie Ungewohntes. Und reden Sie nach der Vorstellung mit Ihren Sitznachbar_innen. Sie könnten sich wundern, was dabei herauskommt.
*Dystopie: griechisch dys- = schlecht und tópos = Platz
*Almagest: Hauptwerk der antiken Astronomie, das auf den griechischen Gelehrten Ptolemäus zurückgeht. Die Hypothese der Erde als Mittelpunkt der Welt.