Ein Armenviertel im Aufbruchvorstadt

Die Villa 31 in Buenos Aires

In Argentinien lebt jede_r zehnte in informellen Siedlungen ohne Strom und Abwasser. Das soll sich nun ändern: Buenos Aires ist im Begriff, sein größtes Elendsviertel aufzuwerten, ohne die Bewohner_innen zu vertreiben. Kann das langfristig gelingen?
Von Veronika Felder und Noel Kriznik

Die Straße, über die man die Villa 31 betritt, ist von Marktständen gesäumt. Bauarbeiter gehen lautstark ihrer Arbeit nach. Von improvisierten Grills steigt Rauch auf, das brutzelnde Fleisch wird den Passant_innen angepriesen. Im ersten Stock eines Hauses, über dem kleinen Friseursalon, öffnet sich die Tür. Julio Daniel Reales tritt hervor. Seine gegelten schwarzen Haare glänzen im Licht der herbstlichen Sonne. Während er die enge eiserne Wendeltreppe heruntersteigt, zupft der 70-jährige Argentinier seine abgenutzte Lederjacke zurecht. An seiner gegerbten Haut und den furchigen Händen erkennt man die Anstrengungen der Vergangenheit.
In der um 1930 entstandenen Villa Miseria sind viele Gebäude baufällig. Die einzelnen Stockwerke erinnern an notdürftig übereinander gestapelte Schuhschachteln, die kleinen Türen werden mit rostigen Gittern geschützt. Die meisten Hütten wurden von ihren Bewohner_innen selbst gebaut. «Da der Staat in vielen südamerikanischen Ländern nicht ausreichend günstigen Wohnraum bereitstellt, wird die Errichtung informeller Siedlungen mehr oder weniger toleriert», sagt Pablo Vitale von ACIJ, einer NGO, die sich für die Rechte der Armen einsetzt. So geschehen auch hier in der Villa 31. Miete falle für die Bewohner_innen des Viertels im Prinzip keine an, jedoch ist das Untervermieten der Wohnungen weit verbreitet, so Vitale.
Im ganzen Land wohnen drei Millionen Menschen in solchen Elendsvierteln, mehr als die Hälfte davon im Großraum der Stadt Buenos Aires – Tendenz steigend. «Favelas» werden die informellen Siedlungen in Brasilien genannt, «Villas Miserias» in Argentinien. Die größte und zentralste Armensiedlung ist die Villa 31, in der auch Julio lebt.

Zentral, aber dreckig.

Acht Jahre alt war er, als er auf der Ladefläche eines Pferdetransporters aus dem Norden Argentiniens südwärts floh, dorthin, wo der Rio de La Plata in den Atlantik fließt: in die Hauptstadt Buenos Aires. Durch die Gewalttaten des Großvaters vertrieben, landete er in den Fängen einer Stadt und ihrer Elendsviertel, die ihn auch im fortgeschrittenen Alter noch fest im Griff haben. Seit 30 Jahren lebt Julio am Rande der argentinischen Gesellschaft, abgeschottet vom restlichen Buenos Aires. Er und 40.000 andere Menschen, zum Teil Zuwanderer_innen aus Peru, Paraguay und Bolivien, wohnen in der Villa 31, umgeben von Dreck und Staub, im Zentrum der Stadt. Nur 2,5 Kilometer Luftlinie entfernt liegt das schicke Hafenviertel Puerto Madero mit seinen teuren Restaurants, Segelbooten und Hochhäusern.
Die Kriminalitätsrate im Viertel ist hoch. Nirgendwo in Buenos Aires werden so viele Delikte aufgezeichnet wie hier. Im Stadtteil rund um den Hauptbahnhof Retiro gab es allein im letzten Jahr 16 den Behörden bekannte Mordfälle. Doch die Villa 31 ist in Bewegung – Details kündigen eine Veränderung an: ein neuer Spielplatz, vereinzelt Häuser aus hochwertiger Bausubstanz und nach architektonischer Planung gebaut. Und immer wieder die hellblaue und gelbe Schrift, die darauf hinweist, dass hier die Stadtregierung am Werk war. «Centro de Salud» steht etwa über einem Neubau: Ein neues Gesundheitszentrum wurde hier vor Kurzem eröffnet.
Noch vor ein paar Jahren stand es schlecht um die Zukunft des Viertels. Der damalige Bürgermeister und nunmehr ehemalige Präsident Argentiniens Mauricio Macri wollte die Siedlung räumen lassen. Die Bewohner_innen wehrten sich erfolgreich gegen das Vorhaben. 2016 nahm die Stadtregierung unter dem neuen Regierungschef Horacio Rodríguez Larreta die Urbanisierung des Viertels in Angriff. Die Infrastruktur soll aufgewertet, die Bewohner_innen sollen sozial in die Großstadt integriert werden. Finanziert wird das Projekt großteils mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der Weltbank.

Ein südamerikanischer Traum.

Die ersten sechs Jahre in Buenos Aires verbrachte Julio auf der Straße. «Hier am Bahnhof Retiro fand ich unter einem Bahngleis Unterschlupf», erzählt er. Er machte Bekanntschaft mit einem Mann, der ihm das Reiten und den Umgang mit Pferden beibrachte. Er half im Stall aus, bekam dafür Essen und manchmal Kleidung. Er ließ sich zum Pferdejockey ausbilden – sein Ticket aus dem Elend, vorerst. Mit 17 ritt er professionelle Pferderennen, konnte sich eine eigene Wohnung, ein Auto leisten. Er heiratete, bekam sechs Kinder. Doch es ging schnell wieder bergab. Er verlor seine Arbeit als Jockey, verspielte sein Geld, verkaufte das Haus und landete in der Villa 31.
Hier baute er mit eigenen Händen ein vierstöckiges Haus, das nun, im Zuge des Projektes, renoviert wurde. Die klapprige Wendeltreppe wurde durch eine neue ersetzt, eine funktionierende Strom- und Wasserversorgung installiert. Bei diesen Änderungen allein soll es nicht bleiben. Auf den zahlreichen Baustellen der Villa wird weitergebaut – mit Unterstützung autodidaktischer Handwerker_innen des Viertels, denen dadurch aus der Arbeitslosigkeit verholfen werden soll. Errichtet werden neue Wohnanlagen auf dem ehemaligen Gelände der staatlichen Ölgesellschaft YPF. Die Stadt hat diesen Grund gekauft. Die restliche Fläche der Villa, die ursprünglich dem Staat gehörte, ist nun ebenfalls in Besitz der Stadtregierung. Die neuen Wohnanlagen sollen jene Menschen beherbergen, deren Baracken nicht renoviert werden können und abgerissen werden müssen. Schließlich soll auch die Illia, die Autobahnbrücke, auf welcher der Verkehr der Großstadt über die Köpfe der Bewohner_innen hinwegrauscht, umgeleitet und in eine Naherholungszone verwandelt werden.

Ist Eigentum die Lösung?

Die neuen Wohnungen und renovierten Häuser sollen ihren Bewohner_innen offiziell verkauft und damit zu legalem Eigentum gemacht werden. Laut Pablo Vitale von ACIJ sollen die Verkaufspreise an die finanziellen Kapazitäten und die Einkommen der Bewohner_innen angepasst werden. Dementsprechende Gesetze wurden bereits verabschiedet. Hat Buenos Aires einen Lösungsweg für das Problem der südamerikanischen Elendsviertel gefunden? Vitale befürchtet, dass die Nebenkosten von etwa Wasser und Strom die Bewohner_innen finanziell überfordern könnten. Außerdem könne die zentrale Lage der Villa, die Grund und Boden für finanzkräftige Investor_innen sehr interessant macht, es den Bewohner_innen erschweren, langfristig hier zu bleiben, sagt Vitale. Die Gefahr, dass die Villa 31 eines Tages einem Viertel für Wohlhabende weichen muss, ist nicht gebannt.
Ende 2019 hätte die Umsetzung des Projekts abgeschlossen sein sollen. Das es nicht so weit kam, lag, so die argentinische Tageszeitung La Nacion, auch an der schwachen Konjunktur. Seit Jahren befindet sich die argentinische Wirtschaft im Abschwung. Auch Vitale befürchtet, dass das eingeplante Budget für 2020 nicht ausreichen wird, um die offenen Projekte fertigzustellen.
Trotz der ungewissen Zukunft des Viertels sieht Vitale auch positive Entwicklungen. Die Villa 31 verändert sich, und die Bewohner_innen, denen seit vielen Jahren eine Besserung versprochen worden war, scheinen langsam Vertrauen zu fassen. Julio sagt: «Uns geht es gut.» Und: «Das ist ein wundervoller Ort.» Die Veränderungen der Villa 31 in den letzten Jahren haben Eindruck bei ihm hinterlassen. Dass manche Leute in der Siedlung jetzt einen Jacuzzi haben, ein Auto, dass es genug zu essen gibt und die Häuser mehrstöckig sind, lassen ihn schwärmen: «Die Leute schämen sich nicht mehr, dass sie aus der Villa kommen, denn warum soll einem etwas Schönes peinlich sein?»
Der Sehnsuchtsort vieler in der Villa 31 ist jedoch immer noch das Leben in einem Buenos Aires, das sich außerhalb der Siedlung abspielt. Das wird deutlich, wenn Julio voller Stolz von seinen Kindern erzählt, die den Weg aus der Armensiedlung geschafft haben und ihren Kindern wiederum ein Leben dort ersparen können. Denn die Erinnerungen an das Leben in der Villa sind nicht so rosig, wie sich einige nun die Zukunft dort vorstellen.