Ein Feuerwerk aus Charitytun & lassen

Wenn ein Jahr zu Ende geht, lieben auch die Wiener_innen ihre Nächsten. Zumindest kurzfristig. Kommentar und Foto von Wolfgang Beyer

Wien, 2019. Eine Bettlerin kauert bei der U-Bahn-Station Keplerplatz. Sie hält ein Schild in die Höhe: «Ich haben Hunger.» Zwei Frauen – Mutter und Tochter? – kommen vorbei. Die jüngere zückt ihre Geldbörse, die ältere verweist auf den beschrifteten Pappendeckel. «Deutsch ist das nicht!», sagt sie tadelnd. Die Jüngere wirft trotzdem eine Münze in den Becher. «Na schön», sagt die Ältere, «aber: Richtig schreiben sollt’ man schon können.»
So schlägt es, das goldene Wiener Herz: Ordnung muss sein, wer nicht schreiben kann, soll auch nicht betteln, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, wer alt genug ist, zu stehlen, ist auch alt genug, von der Polizei erschossen zu werden. Einerseits. Aber andererseits sind wir alle gute Christenmenschen. Und von denen wusste schon Heinrich Heine: «… ihre Großmut ist so groß als wie das Loch der Armenbüchs.’»

Gedeihlicher Ablasshandel.

Um Weihnachten herum ist dieses Loch ein bisserl breiter. Da entfachen die Reichen und Schönen ein wahres «Charity-Hit-Feuerwerk», während die einfachen Unmenschen bei einem «Charity-Bratl-Essen» menschlich sein dürfen. «Caritas» lässt sich mit Nächstenliebe übersetzen, aber «Charity» ist definitiv ihr Gegenteil, geht es doch darum, die Ungeliebten fernzuhalten.
«Die Welt duldet sie wie die Leprakranken», schreibt Sándor Márai über die Armen, «und zu den Reichen führt sie so wenig ein Weg wie von den Toten zu den Lebenden.» Die Almosen-Geberei funktioniert dabei als eine Art Ablasshandel: Wir schenken dir was, und dafür forderst du nicht ein, was dir zusteht. Kurzum: Das Recht wird durch Gnade ersetzt. Weil der Spott zumeist dem Schaden auf dem Fuße folgt, werden die derart um ihre Rechte Geprellten vom Fußvolk des Neoliberalismus noch mit publizistischen Prügeln bedacht: «Ganz prächtig gedeihen Weinerlichkeit, die Kunst des Betroffenheitsposierens und als Mitgefühl verkleidete Larmoyanz auch dort», schreibt etwa der Presse- und Wiener-Zeitungs-Autor Christian Ortner, wo « (…) Feste der Rührseligkeit und der Betroffenheit gefeiert werden, bei denen unter den Überschriften ‹Armut› oder ‹Ungerechtigkeit› oder ‹Sozialer Ausgleich› oder so ähnlich des Jammerns kein Ende ist.» Was der neoliberale Hardliner verschweigt: Es ist genau jenes «Betroffenheitsposieren», das für einen erheblichen Mehrwert in unserer Ökonomie der Aufmerksamkeit sorgt. Dazu der deutsche Soziologe Rainer Mausfeld in seinem Buch Angst und Macht: «Erst das Leiden der Armen ermöglicht den Reichen, ihre Güte zu zeigen … Von John D. Rockefeller bis Bill Gates zeigt sich, welch wirkungsvolle und ertragreiche Wege einer Metamorphose zum ‹Philantropen› kapitalistische Demokratien denjenigen offerieren, die durch Ausbeutung von Gemeingütern, Menschen und Institutionen großen Reichtum akkumuliert haben.»

Brennende Nächstenliebe.

Paris, 1897. Hätte es damals schon TV-Kameras gegeben; und Menschen, die sich selbst Society-Reporter und andere Charity-Ladies nennen; kurzum also: Profi-Promis und Promi-Profis – dann hätten wir Heutigen schon ein ziemlich genaues Bild von dem, was sich damals im «Bazar de la Charité» abgespielt hat: ein Riesenauflauf von Wichtigen und Möchtegern-Berühmtheiten, weltlichen und kirchlichen Würdenträgern mitsamt ihren Lakaien und Mätressen. Sie zwängten sich durch eine enge Gasse, die mit allen Tricks der Bühnenbildnerei ein mittelalterliches Aussehen erhalten hatte. In feinsten Roben taten sie sich gütlich an den feilgebotenen Delikatessen, weil sie wussten: Gegen Hunger gibt es nur ein probates Mittel – essen. Und darum ging es ja schließlich: den Hunger zu bekämpfen, die Armut. Selbst der Gesandte des Papstes war herbeigeeilt, der heilige Nuntius, um diesen «Basar der Nächstenliebe» zu segnen. «Die göttliche Liebe als Vanity Fair» – so kommentiert der deutsche Autor Hans Conrad Zander jenes Szenario, das er in seinem Buch Joachim, mir graut’s vor dir! so plastisch beschrieben hat.
Doch in diesem Mai passierte Denkwürdiges: In einem dunklen Raum war erstmals ein Cinematograph zu bestaunen. Der fing plötzlich Feuer, und die ganze schöne mittelalterliche Dekoration aus Sperrholz und schweren Stoffen ebenso; und natürlich auch die Damen und Herren in ihren schweren, festlichen Gewändern. Alles brannte, alles rannte, die Nächstenliebe war vergessen, die Ritterlichkeit auch, und so trampelten vor allem die Herren über die Damen, deren verkohlte Überreste tags darauf geborgen wurden. Und über dem riesigen Aschenhaufen erhebt sich eine Stimme; jene des katholischen Satirikers Léon Bloy, der, so laut er kann, ein einziges Wort ruft: «Endlich!»

Schämt euch wenigstens.

Nun liegt es mir fern, irgendjemandem ein Feuerchen an den Rocksaum zu wünschen – und noch ferner, gar zu einer mit Strafe bedrohten Tat aufzurufen. Aber: Schämen sollten sie sich zumindest, die Damen und Herrschaften, die ihre unerträglichen Selbstinszenierungen als «ehrliches Engagement» verkaufen. Weil, wie schon Johann Nestroy wusste: «Über die Armut braucht man sich nicht zu schämen, da gibt’s viel mehr Leut’, die sich über ihren Reichtum schämen sollten.»