Ein Gegengewicht schaffenArtistin

Renate Welsh-Rabady beging am 22. Dezember ihren 80. Geburtstag

Die Präsidentin der IG Autorinnen Autoren spricht im Interview mit Cornelia Stahl über Ängste, Sprachlosigkeit und das Gefühl, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Mit ihren Texten möchte sie ein Gegengewicht schaffen gegen Formen der Angstmacherei.

Foto: Ernst Gembinsky

Der Tag scheint wie verhext, alles verläuft anders als geplant. Als ich pünktlich zum Termin erscheine, beendet ein anderer Kollege gerade sein Interview mit der Autorin. Renate Welsh-Rabady bittet mich freundlich ins Haus. Ihr Mann bietet mir und dem Fotografen Ernst Gembinsky Kaffee an. Während des herzlichen Gesprächs erfahren wir, dass die Familie vor einigen Jahren, als eine Rettungsaktion für den Augustin lief, sich wie selbstverständlich daran beteiligte. Seitdem gehört die Straßenzeitung Augustin auf den Frühstückstisch wie die Butter und der Tee und liegt als Morgenlektüre bereit.


Im letzten Jahr erhielten Sie den Literaturpreis der Stadt Wien und heuer den Theodor-Kramer-Preis. Kunst kann/soll provozieren. Gilt das ebenso für Kinderliteratur? Welche Wirkung möchten Sie mit Ihrem Schreiben erzielen?

Erstens denke ich, dass Kinderliteratur nach denselben Kriterien zu beurteilen ist wie allgemeine Literatur. Beide Preise waren nicht für meine Kinderliteratur, sondern für meine allgemeine Literatur. Welche Wirkungen ich erzielen möchte? Immer wieder Menschen eine Stimme zu geben. Ich glaube, es ist nicht unbedingt eine Frage von «provozieren» wollen, sondern provoziert sein durch die Verhältnisse, die so sind, wie sie nicht sein müssten. Und wenn ich provoziert bin, provoziere ich, oder hoffentlich. Aber ich möchte provozieren zum Weiterfragen, sich mit Fragen auseinandersetzen. Und sich nicht zufrieden geben mit Antworten. Vielleicht ein Gegengewicht schaffen gegen die schrecklichen Formen von Angstmacherei, weil ich glaube, dass momentan mit der Angst Geschäfte gemacht werden.

Fällt Ihnen dazu ein konkretes Beispiel ein?

Ja, vor allem die Angst vor dem Anderen wird geschürt, statt zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Man hat für alles einen Sündenbock gesucht. Ich glaube, dass es viele Dinge gibt, vor denen man Angst haben kann, Angst haben muss. Aber die Angst ist ein schlechter Ratgeber. Die Angst ist überhaupt der schlechteste Ratgeber, wenn man die Angst schürt. Die Angst vor dem Anderen schürt und die Angst vor dem Versagen schürt. Und so etwas wie die neuen Intentionen, dass man jetzt wieder Schulnoten einführt bei den Kleinen. Man schürt die Angst vor dem Versagen, statt den Kindern Mut zu machen, sich einzulassen auf das Abenteuer, etwas Neues zu erfahren, sich ein Stück Welt erobern, indem sie sich erst einmal die Buchstaben erobern. Die Angst vor dem Versagen wird sofort geschürt. Die Kinder werden eingeteilt in Einser-Kinder und Zweier-Kinder, und Dreier-Kinder und Fünfer-Kinder. Und mit dieser Angst vor dem Versagen wird gleichzeitig die Lust am Ausprobieren, der Lust zu schauen, was hinter der nächsten Ecke passiert, genommen. Und wenn die Neugier gestoppt wird, wird auch die Möglichkeit und Neugier, was in mir an Möglichkeit steckt und in dir an Möglichkeit steckt, genommen. Und welche Möglichkeiten es gibt, was können wir miteinander erfahren, was können wir Neues entdecken, wird abgetötet. Damit wird so viel an Lebendigkeit, an Erfindergeist, an Lebendigkeit umgebracht. Und das finde ich einfach schrecklich. Jeder Mensch ist anders in irgendeiner Weise. In dem Moment, wo Anderssein immer nur als Bedrohung erlebt wird, wird ein Konformismus gezüchtet, der dann letztlich dazu führt, dass jede Form abgetötet wird. – Ein System, das von vornherein Schubladen schafft. Ich bin für Leistung und gerade deshalb bin ich gegen die leistungsfeindliche Schubladisierung. Ich glaube, dass man mit einer zu frühen Einführung von Fächern die Freude an Leistung durch Angst abtötet. Ich muss dem Kind auch die Möglichkeit geben, Fehler zu machen, damit es sein Potenzial entfalten kann.

Ich erlebe das ständig, wenn ich Schreibwerkstätten leite. In dem Moment, wo ich die Schreibwerkstätte leite, sage ich den Kindern, dass wir nicht auf die Schrift schauen, sondern darauf, dass wir schöne Geschichten und schöne Gedichte schreiben. Ob die Wörter richtig geschrieben sind oder nicht, das machen wir in einem zweiten Schritt, das schauen wir uns dann an. Aber die Kinder sagen mir dann, wenn die Mama das sieht, dann sieht sie nur die Fehler, aber sie sieht nicht, dass ich so ein tolles Gedicht geschrieben habe. Ich möchte, dass sie in einem angstfreien Raum lernen und das Gefühl haben, ich kann was Tolles, ich kann dir etwas schenken.


Ist Ihnen das mit Erwachsenen auch so gegangen? Sie hatten mir beim letzten Mal erzählt, dass Sie eine Schreibwerkstatt in der Vinzirast (Einrichtung für wohnungslose Menschen in Wien-Meidling) anbieten.

Die meisten fragen nicht danach, ob es richtig geschrieben ist, weil die meisten dort von sich behaupten, dass sie sowieso kein Deutsch können. Sie schreiben dann Gedichte, obwohl sie sagen, sie können nicht Deutsch. Sie ­schreiben oft wunderschöne Gedichte. Das finde ich sehr spannend! Eine (Teilnehmerin) hat sich mal geweigert, ein Interview zu geben (einer Journalistin). Diese sagte daraufhin: «Na, Sie haben dieses schöne Gedicht geschrieben». «Das ist anders», antwortete sie. «Wenn Renate sagt, schreib ein Gedicht, dann schreib ich ein Gedicht.» Das ist ein anderer Prozess. Sie

schreiben ein Gedicht, weil sie mich kennen und weil sie wissen, dass es mich freut. Und das ist etwas Schönes. Bei denen stellt sich die Frage nach der Rechtschreibung nicht. Die wissen, ich tippe es ab, wenn ich heimkomme, und bessere die Fehler sowieso aus, also ich gleiche den Text an die übliche Rechtschreibung an. Ich glaube, dass es wichtig ist, festzuhalten, du hast etwas zu sagen. Du hast etwas zu sagen, das wichtig ist, und ich nehme dich ernst. In dem Moment, wo ich keine Unterschiede mache, öffne ich Türen, das ist wichtig.


Haben Sie eine Situation erlebt, in der Sie das Gefühl hatten, die Welt sei aus dem Gleichgewicht geraten?

Ja, das hing mit dem Tod meiner Mutter zusammen. Da spürte ich unheimlich viel Traurigkeit und gleichzeitig ein Thema, an dem man nicht rüttelt.

Als Kind haben Sie das Schicksal zahlreicher jüdischer Menschen miterlebt. Mit wem konnten Sie darüber sprechen?


Eigentlich mit niemandem. Gleichzeitg hatte ich immer das Gefühl, dass ich falsch ticke, dass ich anders bin als die anderen. Ich bin das, was stört, was nicht passt, was nicht dazugehört. Und heute denke ich, das ist doch ein Schatz, aus dem ich Kraft schöpfen kann.

Das Interview mit Renate Welsh-Rabady können Sie am 22. Dezember

um 16 Uhr auf Radio Orange in der Sendung «Literaturfenster Österreich» hören. Oder aus dem Online-Archiv: cba.fro.at/355593