«Ein großer Verrat an den Kurdinnen und Kurden»tun & lassen

Unterstützung für Afrin aus Wien

Die Proteste gegen den Angriff der Türkei auf Afrin (so der arabische, Efrîn ist der kurdische Name) sind international. In Wien wurde die Plattform zur Unterstützung der ­kurdischen Stadt Afrin gegründet. Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic haben mit Joan Kahlo und Ali Mazoudji über ihre Arbeit, das Zögern der Außenministerien und das Leben in Afrin gesprochen.

Foto: Osman Yıldırım

Die Plattform zur Unterstützung der kurdischen Stadt Afrin ruft seit Wochen zu Demonstrationen auf und führt Aktionen durch: Ali, du bist bei dieser Plattform aktiv, kannst du uns etwas darüber erzählen?

Ali Mazoudji: Als die Türkei Afrin angegriffen hat, haben das viele Organisationen und Einzelpersonen als Menschenrechtsverletzung betrachtet. Um eine gemeinsame Basis zu schaffen, wurde eine überparteiliche, mehrsprachige und multiethnische Initiative gründet. Bei der ersten Versammlung waren rund 35 Personen anwesend, mit dem Ziel, die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit des türkischen Angriffs als solche zu entlarven und Solidarität zu bekommen. Außerdem fordern wir staatliche Institutionen und Politiker_innen auf, Afrin zu unterstützen und nicht zuzulassen, dass dort Massaker geschehen.

Wie sieht die Arbeit konkret aus?

AM: Die Arbeitsteilung der Plattform ist so, dass wir zwei Gruppen ­gebildet haben. Eine organisiert die Aktionen und Demonstrationen, die andere versucht mit dem Parlamentsklub und mit Mitgliedern der Regierung Kontakt aufzunehmen. So haben wir etwa schon mit Vertreter_innen des Außenministeriums gesprochen.

Wie haben diese reagiert?

AM: Sie sagten, sie seien auf der Linie des EU-Parlaments. Dieses habe in einer Sitzung einstimmig den Angriff verurteilt. Im Hinblick auf eine humanitäre Unterstützung aber behaupteten sie, es gäbe im Moment keine Möglichkeit. Andernfalls wären sie auch bereit, humanitäre Hilfe zu leisten. Darüber hinaus werden keine Aktionen gesetzt. Sie sagen, sie beobachten die Lage. Wir haben versucht zu verdeutlichen, dass die Zeit drängt. Wir brauchen Taten und keine Beobachtungen. Meiner Meinung nach müsste das Parlament die Angriffe des türkischen Regimes verurteilen und die Kurd_innen unterstützen.

Von vielen Seiten wurde der Krieg gegen Afrin, die Operation Olivenzweig, als völkerrechtswidrig verurteilt. Die Türkei hat kein UN-Mandat dafür, und es handelt sich auch um keine militärische Selbstverteidigung. Von ­einigen Staaten gibt es diesbezüglich Unterstützung für Afrin, große Nato-partner_innen wie Deutschland aber geben nur ausweichende Antworten …

Joan Kahlo: Erdoğan bombardiert Afrin mit deutschen Waffen. Deutschland hat generell sehr weitreichende wirtschaftliche Beziehungen mit der Türkei und möchte dieses gute Verhältnis nicht aufs Spiel setzen – auch nicht wegen der Kurd_innen. Vielen großen Staaten wie den USA oder Frankreich ist es egal, was in Afrin passiert.

Was gerade bei den USA besonders problematisch ist, da ja die Kurd_innen wichtige Partner_innen in der ­Anti-IS- Allianz sind …


AM: Es ist ein großer Verrat an den Kurdinnen und Kurden, weil die Aura des IS durch deren Kampf gebrochen wurde. Die Terrorwelle gegen den Westen, und der Islamismus, der in Deutschland, Österreich und Holland eingesetzt hat, ist durch die Stärkung des IS zustande gekommen. Das kann sich dann wiederholen, wenn Erdoğan siegt.

Joan, du bist in Afrin aufgewachsen und bist 2015 von dort geflohen. Nun lebst und arbeitest du in Wien. Kannst du uns von Afrin erzählen?

JK: Afrin ist die Hauptstadt des gleichnamigen Kantons – es leben dort ungefähr 800.000 Menschen, 300.000 davon sind Flüchtlinge. Die Mehrheit sind Kurd_innen, außerdem leben dort Jesid_innen, Armenier_innen und Araber_innen. Afrin ist ein gebirgiges Land, ein Grenzland. Viele Dörfer sind auf Bergen gebaut, deswegen kann das türkische Militär nur langsam vorankommen. Das Leben in dieser gebirgigen Region ist schwierig. Lange Zeit gab es kaum Arbeit, keine Industrie. Auch heute leben die meisten Menschen am Land von Oliven – von ihrem Anbau und ihrer Verarbeitung. Viele Leute gingen nach Aleppo oder Damaskus, um dort zu studieren oder zu arbeiten.

Der Kanton Afrin zählt zu dem autonomen Gebiet Rojava, das auch wegen der dort eingeleiteten Demokratisierungsprozesse bekannt geworden ist. Wie sehen die gesellschaftspolitischen Strukturen aus?

JK: Seit die PYD, die kurdische Partei der Demokratischen Union, 2011 in diesem Gebiet die politische Macht übernommen hat, hat sie sehr viel für die Demokratisierung gemacht. Alle Leitungspositionen in der Politik, der Verwaltung, bei der Polizei und an den Universitäten werden doppelt besetzt, jeweils von einem Mann und einer Frau. Außerdem sind es gewählte Berufsgruppenvertreter_innen, die in den Volkshäusern, den Mala Gel, alle notwendigen Entscheidungen treffen. Sie kümmern sich um die grundlegende Versorgung, verwalten Ölfelder und Staudämme für die Stromversorgung und stellen die Wasserversorgung sicher. Diese Strukturen wurden in jedem Kanton selbstständig aufgebaut, das heißt, die kantonale Verwaltung ist föderalistisch organisiert.

Afrin hat während des ­Krieges in Syrien 300.000 Menschen aufgenommen, das sind mehr als die Hälfte aller Einwohner_innen des gesamten Gebietes. In Europa wird schon bei viel geringeren Zahlen von «Flüchtlingswellen» und notwenigen «Obergrenzen» ­gesprochen. Wie ist Afrin mit dieser Situation umgegangen?

JK: Viele sind nach Afrin geflohen, weil es ein relativ friedliches Gebiet war. Alle, die nach Afrin kommen, haben das Recht, ein Haus zu mieten und ein Geschäft zu gründen. Doch die meisten Menschen, die aus dem syrischen Kriegsgebiet kommen, verfügen über sehr geringe finanzielle Mittel. Sie werden dann in Flüchtlingscamps untergebracht. Momentan leben 200.000 Menschen dort, sie bekommen Unterstützung vom Roten Halbmond und von Menschenrechtsorganisationen. Es gibt Wasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung. Auch Schulen werden in den Zelten eingerichtet.

AM: Zahlreiche Menschen, die in kurdischen Gebieten Zuflucht gesucht haben, waren Angehörige von IS-Kämpfern. Oft ist bei IS-Siegen in den Flüchtlingscamps gejubelt worden, das ist für uns schwer zu verstehen gewesen.



JK: Auch jetzt halten sich die Familien der meisten arabischen Söldner, die für Erdoğan kämpfen, in Afrin auf. Aber niemand hat einen Hass auf sie – so etwas wie Sippenhaft gibt es dort nicht. Sie haben die gleichen Rechte wie alle Schutzsuchenden.


Was wünscht ihr euch für Afrin? Was sind die nächsten notwendigen Schritte?

JK: Das Wichtigste ist der Schutz der Zivilist_innen …



AM: … und dass der Krieg gestoppt wird. Afrin soll zu einer Schutzzone erklärt werden. Man darf Erdoğan nicht siegen lassen, denn das würde auch eine Re-Islamisierung des gesamten Gebietes bedeuten. Noch etwas: In mehr als 50.000 Moscheen auf türkischen Gebieten wurde die Koransure Al Fath (Der Sieg) gelesen und der Angriff auf Afrin zum Djihad erklärt – eigentlich ein Krieg gegen sogenannte Ungläubige. Viele Kurd_innen sind aber selbst Muslim_innen. Auch hier in Wien wurde diese Kriegssure in den Moscheen gelesen und dieser Krieg als Djihad bezeichnet. Es ist wichtig, dass die europäischen Menschen wirklich wissen, welche Gefahr ein Sieg Erdoğans in sich birgt.

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