Ein JahrDichter Innenteil

Chilip in Druk Yul (12, Ende)

Ein Jahr die Welt durch Gebetsfahnen hindurch betrachtet, und während wir in einem knallgelben Käfer entlang des Wang-chu fahren und Gänse beobachten, mit Piaf besungen, dass wir nichts bereuen. Abends die letzte Flasche Rotwein mit einem Freund geleert und die Welt beredet, ohne klüger zu werden.

Foto: © Namgay Tshering

Ein letzter Espresso im Stammcafé – manche Gewohnheiten nimmt man gerne mit –, serviert mit einer ehrlichen Umarmung zum Abschied vom jungen Chef, der mir mit jedem Kaffeetratsch mehr ans Herz gewachsen, ist als mir bewusst war. In der Wintersonne sitzend tippe ich diese Zeilen und freue mich über die schönen Menschen, die Orte mit Leben und das Herz mit Erinnerungen füllen. Der junge Mann gegenüber könnte ebenso gut in Paris oder Wien sitzen, mit seinem eleganten schwarzen Mantel und dem bunten Schal aus gewebter Wolle mit traditionellen Mustern aus Zentralbhutan. Nur der beim Sitzen kaum sichtbare Rock seines Ghos verankert ihn in Thimphu. Ob dieses Bildes kommt ein Gedanke in mir auf, der seit den ersten Wochen in mir gärt und nun – vielleicht weiterhin unreif – gekostet werden soll. Bhutan braucht keine Nostalgie zu bedienen für Kohäsion oder Identität. Vergangenheit und Zukunft stehen einander weniger unverstanden gegenüber, als es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Mit etwas Geduld und Liebe für die Poesie von Widersprüchen sehe ich die zukunftsstarke Authentizität Bhutans in einer feinen Umbruchsstimmung, leise getragen von jungen Bhutaner_innen, die im teils stark regulierten Regelkorsett konstant Spielraum schaffen, um an einer besseren Gegenwart und Zukunft zu arbeiten und dabei der Vergangenheit und Tradition verständnis- und respektvoll begegnen.

Ich packe meine Koffer und nehme mir die Hoffnung mit, dass ich bei einer Rückkehr nach Bhutan die Kinder von Freund_innen kennen lerne, viel Schönes wiederfinde, Neues entdecke, und diese feine Dynamik des Umbruchs wiederfinde.

Ein Jahr die Welt durch Gebetsfahnen hindurch betrachtet. Ein paar Rosinen vom Dessert noch am Teller, mit Piaf bekräftigt, dass ich für alle Erfahrungen dankbar bin.

Marisa Kröpfl schreibt aus Druk Yul (Königreich Bhutan) von ihren Eindrücken als Chilip, wie Ausländer_innen im Land des Donnerdrachen genannt werden.

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