Ein Justizmord?tun & lassen

Selbstmord nach der siebenundzwanzigfachen Anhaltezeit

Gefaengnis_1.jpgIn meinen Augen ist das ein besonders zynischer Justizmord. Der diesen Verzweiflungsausruf tut, ist kein ungestümer Jugendlicher, sondern ein äußerst bedachter Ordensgeistlicher, nahe seinen Siebzigern, dem der Selbstmord des Maßnahmeinhaftierten Markus Rechberger in der JA Stein im vergangenen März durch Mark und Bein geht wie vielleicht noch keinem anderen zuvor. Und dabei hat der Gefängnisseelsorger in den vielen Jahrzehnten seiner Tätigkeit nicht gerade wenig Erschütterndes.

1994 begeht ein damals noch jüngerer Mann in aufgeregtem Zustand ein Delikt, für das er zehneinhalb Monate unbedingt ausfasst. Bei guter Führung sollte er nach zwei Dritteln, also nach etwa sechs Monaten, bedingt entlassen werden. Stattdessen sieht er sich nach dem 27fachen Ausmaß der üblichen Anhaltezeit immer noch hinter Gittern und gibt auf. Zehn Monate können auch lebenslang bedeuten. Was Rechberger angestellt hat, um zehneinhalb Monate auszufassen, darf nicht erfragt werden. Das könnte als Aufmüpfigkeit und Einmischung in Justizangelegenheiten ausgelegt werden. Aufmüpfigkeit eines Gefängnisseelsorgers kann aber mit hohen Geldstrafen und berufseinschränkenden Konsequenzen bestraft werden.

Wie es zu überlangen Anhaltezeiten kommt, ist aus dem so genannten Maßnahmenvollzug erklärbar.

Die vorbeugende Maßnahme: Therapie oder Zerstörung?

Die vorbeugende Maßnahme kann nach den §§ 21 bis 23 ausgesprochen werden. Erörtert werden sollen hier nur § 21.1 und 21.2, weil sie die beiden Tätergruppen betreffen, die besonders lange über das Strafausmaß hinaus sitzen.

21.1 bedeutet Einweisung in eine Sonderstrafanstalt. Der Täter gilt als schuldunfähig, weil psychotisch, und als gefährlich, weil (auch für sich selber) unberechenbar. Wer keine Schuld hat, darf auch nicht bestraft werden. Er muss sich einer Therapie unterziehen, die ihm nicht immer angeboten werden kann, oder die es möglicherweise nach dem Stand der Forschung noch nicht gibt. Aber auch wenn es gelingt, sein Verhalten mit Medikamenten zu stabilisieren, darf das TherapeutInnenteam ihn nicht in die Freiheit entlassen.

Recht auf persönliche Anhörung bei Gericht hat er nur alle zwei Jahre. Und auch dann darf er im günstigsten Fall nur dann bedingt entlassen werden, wenn ein Empfangsraum für ihn zur Verfügung steht. Diesen Empfangsraum muss in seinem Fall der Staat erst schaffen, denn es bedarf einer fachkundig betreuten Wohngemeinschaft, die von der zivilen Umgebung auch akzeptiert wird. Solche Wohngemeinschaften gibt es. Es gibt sie aber in viel zu geringer Anzahl und weitere, ebenfalls viel zu wenige sind in Planung.

21.2 bedeutet Therapie, bis die Persönlichkeitsstörung, die eine Wiederholungstat befürchten lässt, nicht mehr besteht. Anschließend weitere Anhaltung im Gefängnis, bis die Strafe abgesessen ist. In der Regel steht ein geeignetes Therapieangebot erst nach langer Haftzeit zur Verfügung. Die Gefängnissituation selber ist extrem Therapie (zer-)störend, nur wenige Techniken kommen in Frage. Nur allzu oft werden auch hier persönlichkeitsverändernde Medikamente verabreicht. Kommt es doch zu einem Therapieerfolg, gilt Ähnliches wie bei 21.1. Nur der Empfangsraum, der immer Voraussetzung für eine Entlassung ist, wird nicht vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern muss von den Angehörigen oder vom Entlassenen selber garantiert werden. Dass es also überhaupt zu einer Entlassung kommen kann, erfordert das zufällige Zusammentreffen von Therapieerfolg, positiver Begutachtung, Würdigung dieser Begutachtung durch das Gericht und Garantie des Empfangsraums (Existenz sichernde Arbeitsstelle und passable Wohnung). Gerade dieser Empfangsraum wird aber durch die Haftsituation immer wieder zerstört, weil sich auf einen unbestimmten und vollkommen unbestimmbaren Entlassungstermin niemand einstellen kann. Weil die jedes Mal wieder enttäuschte Hoffnung auf diesen Termin die engsten und ehrlichsten Beziehungen zermürbt. Allzu oft beginnen sich im Laufe dieses Beziehungszermalmungsspiels die Beteiligten am Ende vor dem zu fürchten, was sie so lange immer wieder vergeblich erwartet haben.

Das Stigma geistig abnorm rührt an dunkle Ängste

Die Maßnahme existiert seit der großen Strafrechtsreform 1975. Therapie statt Strafe wurde verwirklicht zu Lasten der öffentlichen Psychiatrie, die damit sehr bald überfordert war. Zehn Jahre später war das Schloss Göllersdorf für die forensische Psychiatrie adaptiert, und die öffentliche atmete auf. Das Problem der Kompetenzenunsicherheit war damit aber nicht gelöst. Der Richter, der juristisch, aber nicht medizinisch ausgebildet ist, erklärt sich für eigentlich nicht zuständig, ein Urteil zu fällen. Er bedarf des psychiatrischen oder psychologischen Gutachters, der seinerseits wieder weder die Zeit hat, den Delinquenten ausreichend sorgfältig zu beobachten, noch dem Gericht den Prozess der Begutachtung zu erklären. Die forensischen Therapeuten wieder finden nur in Ausnahmefällen eine hoffnungsvolle Therapiesituation vor. Dass eine humane Sonderbehandlung einen eigenen Gerichts- und Vollzugskörper braucht, einen speziellen Berufsstand, der juristische und psychologisch-medizinische Kompetenz in Personalunion vereinigt, wollte und will man nicht einsehen oder sich nicht leisten. Nicht nur in Österreich.

In der Schweiz hat aber der positive Reformtrend zumindest wesentlich länger gehalten und gezeigt, wie turmhoch überlegen ein humaner Maßnahmenvollzug er heißt dort Verwahrung einem Härtekurs gegenüber ist. Bis 2004 ist die Zahl der Verwahrten bundesweit auf 42 gesunken, ohne dass es zu einem Ansteigen der diesbezüglichen Straftaten gekommen wäre. Dann machte eine einzige Sensationsmeldung den Erfolg zunichte. Ein Verwahrungs-Freigänger beging ein abscheuliches Verbrechen. Die unmittelbare Folge war ein Volksbegehren zur Einführung der lebenslangen Verwahrung für nicht therapierbare geistig abnorme Rechtsbrecher. Bald war sie in Kraft. Noch schlimmer: Nach Art. 65 des Schweizer StGB kann sie auch nachträglich, d. h. während einer normalen Strafhaft ausgesprochen werden. Dazu hat man auch noch die Null-Rückfall-Forderung für eine Entlassung aus der Verwahrung erhoben. Seither ist die Zahl der Verwahrten auf ein Vielfaches gestiegen.

Das Beispiel der Eidgenossen zeigt, wie sehr wir uns von irrealen, archaischen Ängsten leiten lassen. Wenn es bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn zwanzig kleine Kinder zerfetzt, führt das nicht zu einem Volksbegehren zur Abschaffung der Autoindustrie. Das Risiko Verkehrsunfall haben wir selber geschaffen, sind wir bewusst eingegangen, zahlen es als Preis für die Annehmlichkeit Auto. Das So-gut-wie-null-Risiko eines entlassenen Maßnahme-Insassen sind wir nicht mit Absicht eingegangen, es lässt keine Annehmlichkeiten erwarten, für die es sich lohnt und schon dreht ein ganzes Volk durch. Das Stigma geistig abnorm rührt an dunkle Ängste, und das dürfte die oben gestellte Frage beantworten.

Ein Wort zu den Medikamenten

Der Schizophrenie wird in der Regel mit der Verabreichung von Neuroleptika begegnet. Jene Präparate, die schon lange auf dem Markt sind, haben sich alle als katastrophal in der Langzeitwirkung erwiesen. Die neuen werden von der Pharmazie geradezu schwärmerisch angepriesen. Es ist aber aus neuropsychologischer Sicht nicht anzunehmen, dass sie sich auf lange Sicht als harmlos erweisen. Nach Alternativen zu diesen Dopamin-Hemmern wird erst gar nicht geforscht. Das völlige Fehlen alternativer Medikamente lässt dem Mediziner daher im Extremfall keine Wahl. Er wird den kleineren Schaden anstreben müssen. Besser ein teilnahmslos sabbernder Klient als einer, der auf Befehl einer geheimnisvollen Stimme seine Kinder aus dem Fenster wirft. Dem entlassenen § 21.1-Betroffenen steht in der Regel die lebenslange Einnahme dieser extrem abhängig machenden, den ganzen Körper schädigenden Substanzen bevor.

Änderungsvorschläge des Maßnahmenvollzugs

Die Liste ist keineswegs vollständig, aber die angeführten Überlegungen stammen durchwegs von Menschen, die den Maßnahmenvollzug schon lange begleiten und sehr genau kennen.

Die Strafbedrohung hinaufsetzen nur wirklich gefährliche Täter sollen in die Maßnahme kommen.

eine eigene Patientenanwaltschaft für forensische InsassInnen schaffen.

Verzeichnis maßnahmeerfahrender Anwälte

definitives Haftende längstens zwei Jahre nach Verbüßung der Strafe

Begutachtung durch anstaltseigene Psychiater/Psychologen (Langzeitbeobachtung statt Testverfahren)

Ausbau betreuter Wohngemeinschaften

mehr Beratung und Betreuung der Angehörigen = Hilfe zur Vorbereitung des Empfangsraums

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