Ein Kapitän, kurz vorm Verzweifelntun & lassen

Die Kaiserschiffe und das verhinderte Arbeitslosenprojekt

Wien-Simmering, Hafenzufahrtsstraße 17. Die fotogenste Flotte der Donaustrecke zwischen Tuttlingen und Tutrakan schaukelt hier dem Himmel aller Schiffe entgegen. Kapitän Franz Scheriau kann Robert Sommer (Text) und Victor Halb (Fotos) beim besten Willen nicht sagen, aus wie vielen Schiffen und wie vielen Booten seine

Flotte besteht.

Denn was ist ein Boot? Und wie definiert man ein Schiff? Franz Scheriau sieht nicht so aus, als ob ihm die Unterscheidungskriterien – wenn es überhaupt welche gäbe, die verbindlich für alle sind – ein besonderes Anliegen wären. Die Internetplattform Wikipedia, die üblicherweise für die Ordnung aller Dinge sorgt, die uns betreffen, lässt bei Booten und Schiffen überraschender Weise eine Grauzone zu, in welcher sich die Menschen ohne negative Konsequenzen ihre eigene Sprachregelung zurechtlegen können. Scheriaus Sprachregelung lautet wie folgt: «Ein Boot ist das, was ein Schiff mitnehmen kann. Ein Schiff ist etwas, worin zumindest ein Boot seinen Platz findet. Wahrscheinlich findet ihr das einleuchtend – aber was ist dann mit den Landungsbooten der Kriegs­-Marine, die so groß sind, dass meine ganze Flotte mit einem einzigen dieser Boote transportiert werden könnte?»

Könnte es doch bloß auf allen Gebieten des Lebens einen solchen Grad an Unreguliertheit geben, denkt Franz Scheriau. Dann hätte er wohl das wichtigste Projekt seines letzten Lebensabschnittes schon in die Wirklichkeit umsetzen können. Ältere Arbeitslose geben ihr handwerkliches Know-how an arbeitslose und jobsuchende Jugendliche weiter, die in den Schiffen der Scheriau’schen Flotte die abenteuerlichsten Kurs-Orte Mitteleuropas vorfänden – so formulierte der Captain die Substanz seines experimentellen Ausbildungsprojekts. Schiffe, die zum Teil weit über ein Jahrhundert alt sind, erheischen die Beiträge sämtlicher Handwerksberufe mit Ausnahme der Maurerei.

So eine Flotte sei daher das bestmögliche Laboratorium, um in einem breiten Spektrum handwerklicher Meisterschaft Lehrende und Lernende in Beziehung zu bringen. Was sonst als die Kombination eines Ortes voller Mythen und Rätsel und eines Hüters dieses Ortes, der im Laufe seines Lebens so viel erfahren hat, dass unsereins zehn Leben dafür bräuchte – was sonst könnte Jugendliche mit der Würde ausstatten, Teil eines ganz besonderen Kollektivs zu sein! Franz Scheriau ist überzeugt, dass in einer solchen Atmosphäre auch die depressivsten und aggressivsten Geister im werdenden Kollektiv ihren Platz finden würden.

Um 28 Jahre zu spät.

Logischer Ansprechpartner für solche innovativen Arbeitsprojekte ist das Arbeitsmarktservice. Franz Scheriau war überzeugt davon, im AMS auf offene Ohren zu stoßen. Er kam um 28 Jahre zu spät, denn nachdem der linke Sozialdemokrat Alfred Dallinger – der letzte Sozialminister, der diesen Amtstitel verdiente – 1989 bei einem Flug über den Bodensee tödlich verunglückt war, war es vorbei mit den tausend Blüten experimenteller Beschäftigungspolitik, zu der die AMS-Bürokratie von oben stimuliert wurde. «Die Bewältigung der Zukunft ist nicht mit den Mitteln der Vergangenheit möglich», war das Credo Dallingers. «Wir brauchen jetzt neue Methoden!» Überall im Land wurden selbstverwaltete Projekte, Selbsthilfeeinrichtungen und sozialökonomische Betriebe staatlich gefördert. Die in Vergessenheit geratene «Aktion 8000», gültig von 1983 bis 1995, gab auch den fantasievollsten, avantgardistischsten, anarchistischsten, schrägsten Projekten die Chance, einen Arbeitsplatz über das AMS gefördert zu bekommen, wodurch die Voraussetzung für eine kontinuierliche Arbeit der betreffenden Experimente geschaffen wurde. Franz Scheriau hätte gute Chancen gehabt, im AMS auf hilfreiche Partner_innen zu stoßen.

Heute ist Franz Scheriau mit seiner 1000-Euro-Pension, mit seinen (aus der Sicht der Hafen Wien Holding) irregulären Liegeplätzen an der Donau, mit seinem Aussteigerleben ohne Internet und Fernsehapparat, mit seinem liebenswerten Privatanarchismus und mit seinem selbstangelegten Bohnengarten (den er, als das Stadtgartenamt davon in Kenntnis gesetzt worden war, sofort zerstören musste), im besten Fall ein Niemand für den bürokratischen Apparat. Der einsame Captain spürt in sich immer weniger die Kraft, frei zu bleiben in einem System, das die Menschen immer mehr zu allseitig kontrollierten Nummern macht. Die kommende schwarzblaue Ära verspricht nichts, was Herrn Scheriau beruhigen könnte. «Ich bin hier der Untermieter eines Untermieters», übertreibt der Quer-Reeder, wenn er auf den provisorischen Status seiner Anlegestelle hinweist. «Dass ich bisher mit meinen Schiffen hier bleiben konnte, habe ich dem ORF und den anderen Medien zu verdanken. Es ist die durch sie hergestellte Öffentlichkeit, die mir die Duldung seitens der Holding beschert.» Auch das begeisterte Ja des Wiener Bürgermeisters, nachdem er sich von Scheriau das Konzept erklären ließ, kann der listige Donau-Reeder treffend einordnen. Folgenreich wären solche Gesten der bürgermeisterlichen Zustimmung nur, wenn sie ihm ein Milliarden­investor entlockt, wie der Stadtplaner Reinhard Seiß in seinem Buch «Wer baut Wien» Seite für Seite nachwies.

Die beste Therapie.

Eine «feindliche», nur auf der Basis bestehender Paragraphen legitimierte Übernahme des «vormodernen» Donauuferstückes, in dem Scheriaus skurriles Schiffsmuseum ankert, würde die Hafen Holding in die Reihe jener kommerziellen Übeltäter einreihen, die für die Gentrifizierung der Stadt, für die Abwicklung aller als echt wienerisch definierten Orte verantwortlich zeichneten, die bisher sich unverfälscht den standardisierenden Einwirkungen der globalisierten Städtewettbewerbs-Dynamik entziehen konnten.

Dabei ist seine Flotte ganz unabhängig davon, ob der Traum eines Arbeitslosenprojekts in Erfüllung geht, ein Punkt, der in jedem Fremdenführer Erwähnung finden sollte. «Wer am ersten Tag den Stephansdom und die Kapuzinergruft und am zweiten Tag das Schloss Schönbrunn besucht, der ist am dritten Tag gerädert von so viel Imperiumserbe und Hochkultur. Ein Tag bei meinen Schiffen ist für sie die beste Therapie», meint der Kapitän augenzwinkernd. Um den Kaiser kann man freilich auch hier keinen Bogen machen. Schuld daran ist unter anderem die Geschichte des Hauptschiffes der Scheriau-Flotte, «Frédéric Mistral». Von 1914 bis 1918 war der Dampfer in Diensten der Kaiserlich und Königlichen Marine auf der Donau und im Schwarzen Meer im Einsatz. Er wurde auch als Minensuchboot eingesetzt. Kaiser Franz Josef I. nutzte das Schiff für Inspektionsreisen. Ende der 1990er-Jahre lag die «Frédéric Mistral» gemeinsam mit einem anderen havarierten kaiserlichen Dampfschiff, der «Pascal» (gebaut 1907), an einer rumänischen Ankerstelle. Mithilfe des Dieselschleppers «Josef» – den inzwischen ein befreundeter Rechtsanwalt kaufte – schleppte Franz Scheriau die beiden Dampfer nach Wien. Er freut sich auf Interessierte, die er durch die «Frédéric Mistral» führen und mit 1001 Geschichten ergötzen kann. Mit Geschichten, die zum Teil durchaus belegbar sind, zum Teil aber abenteuerlichsten Hypothesen gleichen.

Innerhalb dieser Bandbreite liegen die Anekdoten seines ungewöhnlichen Lebens, die er gern zum Besten gibt. Die Ströme Europas und die Meere des Planeten lockten ihn, als er 14 geworden war, weg aus seiner steirischen Heimat, und zwar so sehr weg, dass er, als er heimkehrte, kein steirisches Wort mehr kannte. Seine biografischen Erinnerungen sind bevölkert von Reeder-Kolleg_innen wie Jackie Onassis, der er bei einem Londoner Reederball prophezeite, er werde sie eines Tages überholen; von martialisch auftretenden ugandischen Soldaten, die ihm den Schifftransport von Bananen untersagten, weil sie kein Passiergeld vom dem sonderbaren Weißen kriegten, der zu seinen Gunsten wettbewerbsverzerrend handelte, weil seine Konkurrenten sich diesen Abgaben nicht entziehen konnten; oder von wojwodinischen Kalaschnikow-Besitzern, die ihm die Weiterfahrt auf der Donau nur gestatteten, wenn er dem serbischen Volke ein Fass voll Diesel «spendete».

Unsere Leser_innen sollten sich von der gefühlten Abgelegenheit der Scheriau-Flotte nicht beeindrucken lassen. Auch öffentlich ist die unschuldigste Marine der Welt gut erreichbar: Von der U2-Station Donau-Marina aus verkehren zwei Busse (79B, 80B) zur Station Grünhaufenbrücke, über die man zur anderen Seite der Hafenzufahrtsstraße kommt, wo neben einer großen Pizzeria das Schaukeln der Nostalgieschiffe jeglichen Stadtstress auf einen Schlag vergessen lässt. Zwei dieser Schiffe, die 1894 fabrizierte «Ana» und der Eisbrecher «Arthur Kaspar», stehen für Ausflugsfahrten (für zwölf bzw. 50 Personen) zur Verfügung. Auch eine Methode, wie man Franz Scheriau unterstützen kann. Er nimmt Gruppenanmeldungen gern entgegen: 0664 34 34 082.