Koalitionspartner der Grünen will Behinderten das Betteln verbieten
Die Frage muss leider verneint werden. Die Eliten auf kommunaler Ebene drehen nicht durch, sondern handeln systemadäquat. Mit Ausnahme der Grünen nehmen alle im Parlament vertretenen Parteien moderat bis aggressiv am Großversuch teil, den gesellschaftlichen Frust über den Sozialabbau auf das Feindbild des organisierten Bettlers abzuleiten. Man sollte sich diesen populistischen Wettkampf auf dem Rücken der Ärmsten auch unter dem Aspekt der Entmündigung der StaatsbürgerInnen anschauen: Diese können schließlich selbst entscheiden, wie sie sich gegenüber BettlerInnen verhalten. Ob sie spenden oder nicht, ist ihre Privatsache; nichtsdestoweniger sind sie laufend mit Verhaltensvorschriften seitens der Politik konfrontiert.
In einem Interview mit der „Kronen Zeitung“ sagte zum Beispiel der Grazer Bürgermeister Nagl wörtlich: „Man kann nicht länger zuschauen. Man soll den Bettlern, vor allem den behinderten Bettlern, kein Geld geben. Sein Argument: BettlerInnen mit Behinderungen würden von der so genannten Bettelmafia instrumentalisiert.
In einem offenen Brief an das Stadtoberhaupt hat sich nun die Filmemacherin und Cine-Styria-Filmstipendiumspreisträgerin 08, Ulli Gladik, mit der ÖVP-Forderung nach Bettelverbot für Behinderte auseinander gesetzt:
Da ich mich mit dem Thema „Betteln“ in den letzten Jahren sehr intensiv beschäftigt habe, erlaube ich mir, Ihnen folgende Informationen zukommen zu lassen und hoffe, dass Sie Ihre Forderung überdenken:
Ich kenne einige der behinderten Bettlerinnen in Graz sehr gut. Die Bettlerin Natasha K. habe ich zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet, um über Sie ein Filmporträt zu machen. Ich habe die junge Frau mehrmals in ihrem Heimatort Bresnik, einer Kleinstadt in Bulgarien, besucht. Natasha ist körperbehindert. Ihre Eltern haben bis 1989 in einer Fabrik gearbeitet, nach der Wende wurden sie arbeitslos. Das kleine Häuschen, das sich die Familie in den 80er Jahren mühevoll gebaut hatte, war noch nicht abbezahlt. Die Sozialhilfe in Bulgarien beträgt nur ca. 20 Euro monatlich. Die Familie hätte um ein Haar das Häuschen verloren, wäre Natasha nicht nach Österreich gekommen, um hier mittels Betteln Geld zu verdienen. Dank der Grazer und Grazerinnen konnte sie in den letzten Jahren das Haus abbezahlen und den Lebensstandard der Familie so weit aufrecht erhalten, dass ihr Sohn und die Kinder ihrer Geschwister weiterhin die Schule besuchen können. Da es um das Haus auch einen Garten gibt, baut die Familie Obst und Gemüse an, hält Schweine und Hühner und kann sich so teilweise selbst ernähren. In den letzten Jahren konnten Natashas Geschwister sogar wieder Arbeit finden, v. a. in der boomenden Baubranche. Doch seit einigen Monaten sind aufgrund der Wirtschaftskrise auch diese Jobs wieder abhanden gekommen.
Auf die so genannte Bettelmafia bin ich während meiner Recherchen nicht gestoßen. Aufgrund ihrer Körperbehinderung fährt Natasha nie alleine nach Österreich, meist wird sie von ihrer Schwester, ihrem Freund oder ihrer Mutter begleitet, die dann ebenfalls betteln. Auch die slowakischen und rumänischen Bettler, die ich im Rahmen der Recherche in den letzten Jahren interviewt und begleitet habe, kommen nie alleine, sondern meist mit Verwandten oder Nachbarn. Natasha wohnt in einem kleinen, überteuerten Zimmer im Süden von Graz, das sie sich auf Grund der hohen Kosten mit einer ebenfalls aus Bulgarien stammenden körperbehinderten Bettlerin und ihrer Mutter teilt.
Der Film „Natasha“ läuft am 6. Juli um 18 Uhr im Rechbauerkino in Graz, am 27. Juni im Dieselkino Gleisdorf, hatte letztes Jahr auf der Diagonale Premiere und wurde bis dato auf internationalen Festivals und im finnischen Fernsehen gezeigt. Ich lade Sie herzlich ein, sich den Film anzusehen und bei der anschließenden Diskussion in Graz teilzunehmen.
Aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise sind Roma und Sinti in Osteuropa noch stärker bedroht. Einerseits durch rechtsradikale Ausschreitungen (Romamorde in Ungarn, Aufmärsche in Tschechien), andererseits durch den Verlust ihrer Arbeitsplätze v. a. in der Bauwirtschaft. Das so genannte „Bettelproblem“ wird durch ein Bettelverbot nicht zu lösen sein, denn wer in seiner Existenz bedroht ist, wird nach Möglichkeiten suchen zu überleben. Ein Bettelverbot würde nur jene kriminalisieren, die versuchen, auf legalem Weg sich und ihre Familien durchzubringen.
Die Politik ist jetzt besonders gefragt, rechtsextremen Strömungen mittels Bildung und Aufklärung, aber auch Verboten entgegenzuwirken, damit die Diskriminierung von Roma und Sinti in Europa endlich ein Ende findet und auch sie als gleichwertige BürgerInnen Europas ihre Rechte wahrnehmen können.