Ein Leben für das kleine Glückvorstadt

Gschäftl-Report (8. Folge)

Das Lollipopbonbon in der Burg-gasse ist ein Eldorado für Nostalgiker_innen. Den Heißhunger auf Süßes kann man hier sogar an Sonn- und Feiertagen stillen. Von Arthur Fürnhammer (Text) und Mario Lang (Fotos)

Am Anfang war die Freude. Er wollte Kindern eine Freude machen. Und das macht Herr Khlousy auch heute noch. Wenn auch nicht mehr ganz so oft wie vor 30 Jahren. Geplant war das alles aber sowieso nicht. Denn um ein Zuckerlgeschäft zu führen, braucht es kein Wirtschaftsstudium. Genau das aber hat Herr Khlousy in Kairo abgeschlossen. Nach seinem BWL-Studium hat der gebürtige Ägypter in Beirut auch noch Politikwissenschaften studiert. Dann kam der Wunsch, wie so oft bei jungen Leuten, die Welt zu sehen. Österreich klang gut. Österreich klang nach Natur, Sauberkeit und Frieden. Und so landete ein junger Ägypter im Jahr 1972 in Österreichs Hauptstadt. Herr Khlousy begann auch in Wien ein Wirtschaftsstudium. Um daneben von etwas leben zu können, kellnerte er, machte dies und das und wandte sein erlerntes Wissen in der Firma des früheren Finanzministers Androsch an. Doch das Studium wurde immer mehr zur Nebensache. Als er Familienvater wurde und nicht nur für sich selbst sorgen musste, hängte er das Studium komplett an den Nagel. In Hinkunft wollte Herr Khlousy nicht mehr von Arbeitgeber_innen und ihren Kurzzeitverträgen abhängig sein und machte sich selbstständig. Er suchte nach einem leer stehenden Geschäftslokal und fand eines, ein ehemaliges Teppichgeschäft, in der Burggasse 57.

Niemand braucht sie.

Herr Khlousy erinnert sich, dass es damals noch drei Bäckereien und zwei Konditoreien alleine in der Burggasse gegeben hat. Diese sind heute genauso verschwunden wie die fünf Zuckerlgeschäfte, die noch in den 1970er-Jahren das Grätzel rund um den Spittelberg mit Süßem versorgt haben. Die Hochblüte, die goldene Ära der Zuckergeschäfte waren die Jahrzehnte nach dem Krieg. Damals bekam man Süßigkeiten, von Greißlereien abgesehen, wirklich nur in Spezial-Geschäften. Als Herr Khlousy 1984 seinen Lollipopbonbon-Laden eröffnete, waren die Zeiten zwar schon nicht mehr so golden. Aber gut genug, um im Süßwarengeschäft eine Zukunft zu sehen. Einen speziellen Bezug zur Branche hatte er nicht. Sein hauptsächlicher Antrieb war es, wie er betont, Kindern eine Freude zu bereiten. Und tatsächlich sind Süßigkeiten im Grunde genommen zu nichts anderem da. Es sind keine Grundnahrungsmittel. Niemand braucht sie wirklich. Gäbe es sie nicht, würde kein Mensch verhungern. Man kauft sie, um sich selbst oder andere damit zu beglücken.

Und das tat man in den 1980er-Jahren noch mehr als heute. Natürlich war von problembehafteten Inhaltsstoffen wie Palmöl zu dieser Zeit noch keine Rede. Andererseits wusste man auch damals schon, dass Süßes, vor allem in rauen Mengen konsumiert, der Gesundheit wenig zuträglich ist. Die Gewissenskeule schlug damals aber weniger hart zu als heute. Die Lust am Naschen, an der täglichen kleinen Sünde, war noch nicht vom Ideal einer gesundheitsoptimierten Leistungsgesellschaft vergällt. Dabei kommt es doch, wie Herr Khlousy nicht müde wird zu betonen, immer nur auf die Dosis an. Manche Süßigkeiten, beteuert er, hätten gar eine gesundheitsfördernde Wirkung. Gummibären etwa hätten Inhaltsstoffe, die fürs Knochenwachstum und generell für die Entwicklung von Kindern gut wären. Das wüsste nur leider niemand.

Kiloweise Bonboniere.

Dass Herr Khlousys Umsatz im Jahr 2018 nicht mehr der Gleiche ist wie vor 30 Jahren, liegt also zum einen am Wandel der Gesellschaft. Kinder dürfen heute einfach weniger als früher. Aber auch die Konkurrenz ist heute eine andere als vor 30 Jahren. Wer muss heutzutage schon in ein Zuckerlgeschäft gehen, wenn er seinen Gusto auf Süßes nicht nur im Supermarkt, sondern auch schon in jeder Trafik befriedigen kann? Und auch die Kundschaft ist nicht mehr die gleiche. Ein Kundensegment, die ältere Generation, ist total weggebrochen. Und da kommt wenig nach. Neubau ist bekannterweise ein eher junger Bezirk. In seinen Anfangsjahren hatte Herr Khlousy älteren Herrschaften, die bei ihm kiloweise Bonboniere eingekauft hätten. Und oft hätte er diesen auch geholfen, die Einkäufe bis vor die Haustüre zu tragen. Das ist vorbei. Ein paar altgediente Stammkund_innen hat der Ladenbesitzer aber noch. Etwa jenen 93-Jährigen, der es sich nicht nehmen lässt, obwohl schon längst auf einen Rollator angewiesen, regelmäßig im Lollipopbonbon vorbeizuschauen.

Konfliktscheue Eltern.

Während des Reportagetermins mit dem AUGUSTIN herrscht durchaus reger Kundenverkehr. Viele kennen das Geschäft noch aus ihrer Kindheit. Wie etwa jene Kundin, die sich noch schnell ihre zwei Trüffelkugeln besorgt, bevor sie die Kinder von der Schule abholt. Als Kind schon Stammkunde, kommt sie nun auch mit ihren eigenen Kindern gelegentlich vorbei. Da sie dem Nachwuchs aber gerade in dieser Hinsicht kein Vorbild sein will, hat sie heute die Trüffelkugeln zuerst abgeholt und dann die Kinder. Zum gleichen Thema weiß Herr Khlousy zu berichten, dass manche Eltern extra auf die andere Straßenseite wechseln, um nur ja keine Konflikte mit dem Nachwuchs heraufzubeschwören.

Neben der Stammkundschaft lebt das Geschäft auch von seiner Laufkundschaft. Die Lage mitten im siebten Bezirk ist ja nicht die schlechteste. Immer wieder kommt es vor, dass sich Gäste vom direkt nebenan liegenden Espresso ins Zuckerlgeschäft verirren. So auch heute. Die zwei Studentinnen, beide Erstkundinnen, kaufen Krachmanderl, Cola-Flascherl und andere offene Ware, die in Sackerl abgefüllt und nach Gewicht verkauft wird. An Kundschaft schaut außerdem vorbei: eine Oma, die ihrer Enkeltochter auf Wunsch ein Brausesackerl kauft. Und eine Mutter mit ihrem Sohn, dessen Aufmerksamkeit zuerst auf die in großen Schachteln am Boden liegenden, rosa und grün gefärbten Gummiwürste («Lianen») gelenkt wird, der sich nach spontaner Reaktion der Mutter – «echt, aber nicht im Ernst!» – dann doch für eine kleinere, aber um nichts weniger poppig-bunte Gummischlangenvariante entscheidet.

Workaholic im Zuckerlgeschäft.

Überhaupt ist ein Besuch im Lollipopbonbon ein wenig wie eine Zeitreise, eine Reise in die eigene Kindheit. Man entdeckt Waren, die es vor 40 Jahren schon gegeben hat und die auch damals nur im Zuckerlgeschäft erhältlich waren. Schaumgebäck zum Beispiel, diese kleinen in zartem Rosa gehaltenen Semmerl, Kipferl und Striezerl, die nach Gewicht verkauft werden.

Dass man sich bei Betreten des kleinen Geschäfts in der Burggasse mit der übervollen, bunten Auslage in die 80er-Jahre zurückversetzt fühlt, hat aber noch einen anderen handfesten Grund. Seit Herr Khlousy 1984 das Geschäft mit eigenen Händen eingerichtet und die Wände weiß-rosa gestrichen hat, wurde kaum etwas verändert. Nostalgiker_innen wird hier daher das Herz aufgehen. Wer ist trendiger, moderner und aufgeräumter mag, der wird einer der vielen, in den letzten Jahren aus dem Boden geschossenen Lifestyle-Schokolade-Boutiquen bevorzugen. Dort kostet die peruanische Ingwer-Schokolade dann halt auch, was sie kostet, dafür aber nascht man am Puls der Zeit. Gleich geblieben sind seit dem ersten Tag nicht nur Ambiente und Interieur, sondern auch die Öffnungszeiten. Und die haben es in sich. Seit 34 Jahren steht Herr Khlousy an jedem Tag der Woche, Sonn- und Feiertage inklusive, in seinem Geschäft. Aufgesperrt wird spätestens um 8 Uhr, zugesperrt um 20 Uhr. Wieso, das weiß er selbst nicht so genau. Vielleicht einfach deshalb, weil es von Anfang an möglich war. Denn für Zuckerlgeschäfte galten die gleichen gesetzlichen Sonderbestimmungen wie für Blumenläden. Vermutlich, um bei Einladungen am Wochenende kurz entschlossen nicht nur Blumen, sondern auch Bonboniere besorgen zu können. Recht familientauglich sind solche Geschäftszeiten natürlich nicht. Aber man hat sich arrangiert. Seine Kinder hätten ihn zumindest immer nach der Schule besucht, mein Herr Khlousy.

Wer seit über 30 Jahren 80 Stunden pro Woche arbeitet, hätte sich etwas Freizeit, eine Auszeit oder gar eine Pension verdient. Doch der Geschäftsmann zweifelt, ob das überhaupt gut für ihn wäre. Er vergleicht sich selbst mit einem Motor, der alleine dadurch, dass er ständig läuft, in Schuss bleibt. Und bei dem man nicht weiß, ob er wieder in Schwung kommt, sollte man ihn jemals abstellen. Obwohl schon Mitte 60 wird Herr Khlousy also noch länger Süßigkeiten verkaufen und Kindern eine Freude machen. Bis es nicht mehr geht. Und die Lust weg ist. Aber noch ist sie da, die Lust.

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