Ein Leben für die Beladenen dieser Welt Evamarie Kallirtun & lassen

"Hab' menschliche Monokulturen nie gemocht"

Sie hätte die „Galerie nächst St. Stephan“ übernehmen sollen. Stattdessen engagierte sie sich für die SOS-Kinderdörfer und für das Wiener „Regenbogenhaus“ und gibt Flüchtlingen Deutsch-Unterricht. Ein Gespräch mit Evamarie Kallir, die 1938 als 12-jähriges Mädchen nach Amerika flüchten musste, über ihre Rückkehr, über „fließende Grenzen“ und die Verweigerung des Materiellen.Das war nicht so furchtbar interessant damals. Es war so, wie andere wussten, dass die Großmutter aus Böhmen kommt.“ So erinnert sich Evamarie Kallir, die heuer 80 wird, an den Umgang ihrer Familie mit der Tatsache, eines teils jüdischen, teils katholischen Familienzusammenhangs. Frau Kallir ist, wie ihre Mutter, getauft und ging bei den Ursulinen zur Schule.

„Bis zu meinem 12. Lebensjahr lebte ich das Leben eines eher behüteten Kindes aus einer bürgerlichen Familie“, erinnert sie sich. Man wohnte im ersten Bezirk, es gab eine Köchin und, solange die beiden Kinder noch klein waren, ein Kindermädchen. Die Sommerfrische verbrachte man in Bad Aussee. Der Vater war Kunsthistoriker und Kunsthändler und gründete 1923 die „Neue Galerie“, die heute „Galerie nächst St. Stephan“ heißt. „Wir waren sehr patriotisch und das Schlimme für mich war 1938 vorerst, dass Österreich nicht mehr existierte.“ In der Schule wurde nun nicht mehr für Österreich gebetet, sondern die Nonnen beendeten das Gebet jetzt mit „Amen, Heil Hitler“.

„Ich glaubte lange, das geht nur die Erwachsenen was an. Aber in der Nacht nach dem Anschluss erwachte ich von dem Geschrei auf der Straße und sah, wie am Haus gegenüber die rot-weiß-roten Fahnen heruntergeholt und die Hakenkreuzfahnen aufgezogen wurden, da wurde mir klar, dass das ein Untergang ist und dass da auch die Erwachsenen nichts tun können.“ Die Flucht der Familie erfolgte Mitte Juni 1938, denn aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze waren sie in Österreich ihres Lebens nicht mehr sicher. Die Fluchtvorbereitungen mussten heimlich getroffen werden, in der Schule durfte Evamarie nichts davon sagen.

Der Vater bemühte sich, ein Visum für die Familie zu bekommen: „Da hieß es dann, die Schweden geben’s einem nur, wenn man auch ein Schweizer Visum hat und die Schweizer geben’s einem nur, wenn man auch ein englisches hat. Deswegen kann ich die Flüchtlinge heute so gut verstehen. Es hat einen niemand haben wollen.“ Die Angst vor der Grenze, die Frage, ob sie eine/n auf der einen Seite raus- und auf der anderen Seite reinlassen, saß Frau Kallir noch Jahre nach dem Krieg in den Knochen.

Sommerferien bei der Trapp-Familie

Die Schweiz bildete eine einjährige Zwischenstation auf der Flucht. Da der Vater dort keine Arbeitserlaubnis bekam, fuhr er allein nach Paris und versuchte dort, eine Galerie aufzubauen. Als man das Einreisevisum für die USA erhielt, entschloss sich die Familie, anstatt nach Paris nach Amerika zu gehen. Die Galerie in Paris hatte St. Etienne geheißen, d. h. St. Stephan, und so hieß dann auch die Galerie in New York, die heute noch besteht. Frau Kallirs Vater hatte viele Bilder aus Österreich rausbringen können, denn sie galten den Nazis als „entartete Kunst“, Bilder von Schiele oder Klimt und anderen. Er bemühte sich, in den USA Kunst aus Österreich bekannt zu machen und veranstaltete Anfang der 40er Jahre eine Schiele-Ausstellung in New York.

Die Begeisterung der Amerikaner hielt sich in Grenzen. „Die New York Times meinte damals, für Europa mag das ja interessant sein, aber für Amerika ist das nix“, erinnert sich Frau Kallir. Die Galerie in Wien war in der Nazizeit „arisiert“ worden. Sie wurde von einer engen Mitarbeiterin des Vaters übernommen, die meinte: „Wenn der ganze Spuk vorbei ist, dann kriegst du sie wieder.“ Die Frau hielt ihr Versprechen.

Wenn es nach Evamaries Vater gegangen wäre, hätte seine Tochter nach dem Krieg die Galerie in Wien führen sollen. Das tat sie dann auch zwei Jahre lang, anfangs der 50er Jahre. Doch dann hatte sie andere Pläne. Sie hatte von der Gründung des ersten SOS-Kinderdorfes durch Hermann Gmeiner erfahren und wollte dort mitarbeiten. Elf Jahre lang war sie handwerkliche Leiterin und „Mädchen für alles“ im Kinderdorf in Imst und mobilisierte darüber hinaus auch noch gemeinsam mit ihren Eltern in den USA Spendengelder für die SOS-Kinderdörfer. Bereits in den USA hatte Frau Kallir Erfahrungen in sozialer Arbeit gesammelt. Nach dem Collegeabschluss mit Schwerpunkt auf Kunstgeschichte und Kunsterziehung betreute sie in einem Tageshort in Harlem afro- und lateinamerikanische Kinder. Später unterrichtete sie für zwei Jahre an einer öffentlichen Schule.

Die Sommerferien verbrachte sie mit der berühmten Trapp-Familie in Vermont: „Ich hab sie kennen gelernt, als sie bei uns am College aufgetreten sind. Ich bin nach der Vorstellung backstage gegangen und hab mich vorgestellt.“ Evamarie wurde zu einem Music-Camp eingeladen, das in einfachen Holzbaracken in den Bergen stattfand. „Das war schön, es war sehr österreichisch, wir sind alle im Dirndl rumgelaufen. Ich hab dort mitgeholfen. Man hat gesungen und abends gab es Volkstanz auf der Wiese. Es waren auch sehr nette junge Amerikaner dort. Das erste, was ich machen musste, war, auf Besen und Mistschaufeln den Namen von Komponisten schreiben. Es hat eine Schubert-Hall und eine Haydn-Hall gegeben und jeder Besen und jedes Mistschauferl hat in eine Halle gehört“, erzählt sie lachend.

Niemand sonst aus ihrer Familie wollte nach Österreich zurück

Frau Kallir war die Einzige der Familie, die nach dem Krieg wieder nach Österreich zurückkehren wollte. „Niemand glaubte mir, dass ich Heimweh hatte. Ich glaubte und glaube immer noch, dass ich nur hier leben kann. Ich hätte jederzeit in die USA zurückkehren können. Ich wollte auch so eine Art Brücke sein. Es war doch sehr viel Verbitterung da, gerade auch bei meinem Vater. Ich hatte auch das Gefühl, nachdem wir Auschwitz entronnen waren, dass es eine Verpflichtung ist, etwas zu tun, dazu beizutragen, dass so etwas nicht mehr passiert. Der rote Faden, der sich durch alles zieht, das sind die ,fließenden Grenzen‘, die immer wieder bei mir vorkommen. Ich wollte immer schon die Verschiedenheit, in der Menschen leben, überbrücken. In Wien wurde ich von einem Tag auf den anderen von einem normalen Schulkind zu einem, das sich nicht mehr auf die Straße getraut hat. Die Wahrnehmung dieser Kluft zwischen Menschen, zuerst in Wien und dann in Amerika, das hat mich sehr beeinflusst.“

Der Versuch der Überbrückung von Gegensätzen ist für Evamarie auch ein wichtiges Prinzip im „Regenbogenhaus“ in Wien, zu dessen Gründerinnen sie gehört. „Ich hab menschliche Monokulturen nie gemocht, die find ich genauso langweilig wie landwirtschaftliche Monokulturen, Knabenpensionate oder Mädchenpensionate, oder Altersheime, alles, wo Leute von nur einer Art sind. Wir alle, besonders in Österreich, haben ein Kastldenken: Die gehören dahin und die dorthin. Das war im Regenbogenhaus sehr schwer, weil man immer gefragt hat: Was habt ihr für Zielgruppen? Und wir haben gesagt, die Frau Müller und der Herr Meier, wer immer kommen will, oder wer Probleme hat oder sich abgeschoben oder am Rand fühlt. Ich bin später draufgekommen, dass das für viele Menschen auch sehr bedrohlich ist, ,fließende Grenzen‘. Man wird ziemlich angefeindet, wenn man starre Grenzziehungen in Frage stellt. Das macht Angst, deshalb gibt es jetzt auch dieses übertriebene ,Man-muss-sich-abgrenzen‘ in der Sozialarbeit. Es ist da auch die Angst dahinter, ich möchte nicht so sein, wie die, mit denen ich arbeite.“

Sie zog die Substandardwohnung in Ottakring vor

Evamarie Kallir ist von bewundernswerter Konsequenz in ihrer Lebenshaltung. Nachdem sie in den 60er Jahren mit über vierzig nach Wien zurückkehrt und hier eine Abendschule für Sozialarbeit absolviert, arbeitet sie zunächst im „International Social Service“, der inzwischen leider eingespart wurde, wie sie erzählt. Das ist eine internationale Einrichtung, die sich mit zwischenstaatlichen Sozialfällen beschäftigt. Später wechselt sie zum Psychohygienischen Dienst der Stadt Wien. Ihre ehrenamtliche Arbeit begann sie bereits während ihrer Berufstätigkeit, zuerst im „Regenbogenhaus“, später in Flüchtlingseinrichtungen, wo sie bis heute Sprachunterricht in Englisch, Deutsch und Latein gibt. Derzeit unterstützt sie ein armenisches Mädchen und eine Familie aus dem Kosovo beim Spracherwerb.

Für Frau Kallir schließt sich auf diese Weise der Kreis in Wien: Als ehemaliges Flüchtlingsmädchen hilft sie jetzt hier anderen Flüchtlingen. In ihrer Wahl zwischen einem Leben auf Long Island, wo jetzt ihr Bruder lebt, und einer Substandardwohnung in Ottakring hat sie sich für Letzteres entschieden. Warum? „Das gehört auch zu den ,fließenden Grenzen‘. Als ich während meiner Ausbildung in diese Wohnung gezogen bin, hatte ich nicht viel Geld. Und mir war auch klar, dass ich nicht sehr viel anders leben möchte als die Menschen, mit denen ich zu tun haben werde, weil das auch eine Grenze macht. Ich wollte auch keine teure Wohnung haben, wo ich arbeitsmäßig nicht das machen kann, was ich eigentlich machen will. Ich hab ja halbtags gearbeitet, mit entsprechend weniger Gehalt, um im Regenbogenhaus arbeiten zu können. Das ging nur mit einer niedrigen Miete.“

Frau Kallir hat sich materiellen Zwängen nie unterworfen. Die daraus resultierende Freiheit hat sie zu nutzen gewusst. Heute lebt sie von einer kleinen Pension. Trotz starker Sehschwäche ist sie immer noch viel unterwegs und sehr an Menschen interessiert. Ihr Glaube ist ihr wichtig, betont sie, und auch ihre Verbindung zum Judentum. Heuer im Frühling war sie zum ersten Mal in Israel und voriges Jahr nahm sie am Austrian Social Forum in Linz teil, aus Interesse an dem, was in der Welt vor sich geht.

Infos zum Regenbogenhaus – Verein zur gegenseitigen Hilfe, Wien:

http://www.regenbogenhaus.at

Infos zur Galerie St. Etienne, New York: http://www.gseart.com/,www.gseart.com/

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