Ein neues Normaltun & lassen

Illustration: (c) Thomas Kriebaum

Klimazone (Jänner 2024)

Begann es in meiner Kindheit zu schneien, dann ging ich immer mit demselben Wunsch ins Bett: Es möge über Nacht so viel schneien, dass wir eingeschneit sind. In meiner Vorstellung würde der Schnee am nächsten Tag bis weit über die Hälfte der Eingangstür reichen. Wir könnten nicht mehr raus und das Wichtigste: Ich könnte nicht in die Schule.
Mein Wunsch ging nie in Erfüllung. Doch ich weiß genau, was diesen Wunsch nährte – die Erzählungen meiner Großeltern. In diesen türmten sich im Winter die Schneemassen im Tiroler Mittelgebirge. Die Dorfstraßen wurden kurzerhand zu Rodelpisten umfunktioniert. Die Schule blieb für mehrere Tage geschlossen. So romantisch, wie sich das für mich als Kind anhörte, war es natürlich nicht. Schuhe, Heizung und manchmal auch Essen fehlten. Der Weg zum Plumpsklo war kalt, die medizinische Versorgung schlecht.
Die Schneemassen aus den Erzählungen meiner Großeltern habe ich selbst nie erlebt. Kein Wunder, denn Messreihen belegen, dass im Schnitt immer weniger Schnee fällt und dass er immer weniger lang liegen bleibt, vor allem auf Höhenlagen unter 1.500 Metern. Das Klima verändert sich; langsam, aber stetig. 2023 war laut dem EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus das heißeste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn. Die weltweite Durchschnittstemperatur lag 1,48 Grad über der des vorindustriellen Zeitalters. Ein wenig fühle ich mich wie der Frosch im kochenden Wasser. Denn ich habe mich daran gewöhnt, dass es wärmer wird. Waren Sommertage mit mehr als 30 Grad Celsius früher eine Besonderheit, kann mich ein zusätzlicher Hitzetag heute nicht mehr überraschen. Das liegt daran, dass das menschliche «Wettergedächtnis» relativ kurz ist. Wir vergleichen das aktuelle Wetter meist nur mit den zurückliegenden zwei bis acht Jahren. Dementsprechend verändert sich auch ständig, was wir als «normales Wetter» wahrnehmen.
Hinzu kommt ein weiteres Phänomen, das in der Fachsprache als «shifting baseline syndrome» bezeichnet wird. Beschrieben wurde dieses Phänomen erstmals 1995 vom Meeresbiologen Daniel Pauly. Er beobachtete, dass Forschende den Fischbestand am Anfang ihrer Karriere als normal ansahen und dort die Basislinie ansetzten. Was langsam stattfindende, globale Veränderungen betrifft, unterliegen wir einer kollektiven Wahrnehmungsverschiebung. Wir vergleichen Umweltveränderungen nicht mit einer historischen Basislinie, sondern mit den eigenen Erfahrungen; mit der Ausgangssituation, die wir erlebt haben, meist im Jugendalter. So werden nicht nur steigende Temperaturen, sondern auch Wiesen mit wenigen Schmetterlingen oder insektenfreie Windschutzscheiben immer mehr zum Normal.
Wie stark verschoben meine eigene Basislinie ist, fällt mir auf, wenn mein Großvater von seiner Kindheit erzählt. Dann erzählt er nicht nur vom Schnee, sondern auch von den vielen Forellen im Bach hinter dem Hof, die er mit bloßen Händen herausgefischt hat. Als der Jäger ihn eines Tages dabei erwischte, brachte ihm das ordentlich Ärger ein. Auch ich habe als Kind viel Zeit an diesem Bach verbracht. Eine Forelle habe ich dort aber nie gesehen.