Ein Ort, wo keine Walnüsse wachsenDichter Innenteil

Illustration: Silke Müller
  1. Kapitel

Gott wusste, dass Corona, mein Geldmangel, Bequemlichkeit, Hitze und andere tägliche Routinen mir wenig Antrieb für das «Reise-Pedal» verleihen würden, um noch diesen Sommer eine Heimatreise zu machen. Er wusste auch, dass letztes Jahr der Pass meiner Tochter Jovana abgelaufen ist, und dass Jovana am 5. Juli eine Lehrstelle als PKA bekommt, ich hatte keinen Schimmer vom Ablaufdatum. Natürlich könnte ich auch den Pass in Wien machen, es dauerte aber viele Monate, und wer kann sich das im Westen leisten, auch in Wien nicht, obwohl es ganz nah am Balkan liegt. Und für einen Teenager kommt das ja nicht in Frage: eine Arbeit ohne eigenes Konto. Der Geist dieser Zeit kämpft mit aller Kraft um die Geburt einer Plastikkarte.
So fuhr ich mit meinem braunen, wackeligen Einkaufstrolley in die Herzgasse, kaufte das halbe Geschäft leer. Als sie dort hörten, dass meine zwangsweise Pass-Mission mich bald auf den Balkan führen würde, strebte die nette Landfrau danach, mir den Rest vom Geschäft zu schenken. Ich zeigte ihr meine volle Tasche, gleichzeitig seufzten wir tief, um die Heimatseele zu beruhigen. So fuhr ich zwar erschöpft, aber glücklich über die kurze Entspannung bis zu meiner Wohninsel. Dort nahm ich alle Essens-Materialien, stellte sie auf meinen schmalen, langen Tisch im Keller, teilte alles gerecht auf für ein paar Familien und zwängte alles in den riesigen blauen Koffer.

 

 Wie sich Ruhe mit einem wehmütigen Gefühl mischte

 

Wir stiegen in den Olituris. Der Bus war leer, nur ein paar Passagiere saßen drin, ein Glück, dass es Mittwoch war und noch keine Ferien. Jovana saß alleine, wie gewöhnlich hypnotisiert vor dem Handy, ich saß gegenüber und spürte, wie sich langsam Ruhe mit einem wehmütigen Gefühl mischte. Es sind nur zwei Jahre, seit ich das letzte Mal in meinem Geburtsort war, und doch kam es mir vor, als wäre es eine Ewigkeit. Es war ein Fremde-Gefühl, nicht wie früher, als Radovan noch lebte, als er bei unserer Ankunft jederzeit die Türe für uns aufhielt, nein, es war wie reisen ins Ungewisse.
Wenn mein Vater uns damals erwartete, heizte er im Winter den alten Ofen die ganze Nacht ein, im Sommer kaufte er mit seinen letzten Dinar große Wassermelonen, Paprika, Tomaten und Kajmak und den guten alten Somun (weißes Brot). Die schwache Birne leuchtete, auch sie wartete mit dem alten Mann, der sich sehr danach sehnte, endlich mit jemanden zu reden und Kaffee zu trinken, auf die alten verrosteten Herdplatten ein paar Ziegel zu legen und ein Mahl zu bereiten. Und selbst wenn es nur Schweineleber war, so roch es, als wäre die ganze Welt willkommen. Als er starb, hinterließ er mir und Jovana das Erdgeschoss mit zwei Zimmern, Küche, Badezimmer und eine kleine Vorratskammer. Es waren keine Wände aus Gold, aber aus Liebe und mit Fürsorge tapeziert. Es roch nach Feuchtigkeit und die Möbel fielen auseinander, doch nur der Augenblick zählte. Ob der kleine, alte Mann ahnte, dass er meine Heimat war, nicht dieses mit Schweiß und gebogenem Rücken von ihm erbaute Fundament?

Keine Wände aus Gold, aber mit Fürsorge tapeziert

Der verwuzelte Zettel damals beim Anwalt war beschrieben mit ein paar schiefen Buchstaben. Das Schreiben war an uns beide gerichtet. Mit verschmierten Hosen und fleckigem Hemd, jedoch bewusst und mit einem zielstrebigen Klang in seiner Stimme, so edel, als würde er uns Schlösser, Ländereien im Testament übereichen … «Dieser Besitz gehört meinen zwei armen Seelen, die eines Tages vielleicht aus der Fremde zurückkehren und wenn auch die Schindeln Löcher haben, so haben sie noch immer ein eigenes Dach über ihrem Kopf, ich weiß nicht, welches Glück sie haben werden.» Damals, als er im September starb, hatte ich viele Entschuldigungen für andere, warum ich nicht Erde in die tiefe Grube warf und einen Kranz nicht trug mit einem kleinen Mädchen, das niemanden hatte als diesen alten Mann. Jovana begann gerade die erste Klasse und Geld hatten wir nicht. Ich konnte seinen schwachen, müden, alten Körper vor der kalten Erde nicht bewahren, doch die letzte Erinnerung an ihn durfte ich mir behalten, wo er fröhlich mit seiner Ziehharmonika spielte und sang.
Mein Bruder hat am selben Tag alle seine und meine Sachen weggeschmissen. Als ich ihn vor zwei Jahren dort für ein paar Stunden besuchte, war alles verschwunden, was je an eine Heimat und einZuhause erinnerte. Stattdessen schien dieses mir mal geborgen scheinende kleine Untergeschoss wie eine verlassene Ruine, wo Schlangen und Skorpione wohnen. Als ich ihn fragte, warum das so aussieht, sagte er ruhig, dass die Sachen kaputt waren und er sowieso vorhatte, mich auszuzahlen, weil Dunja, seine Tochter, das Haus eines Tages besitzen sollte, außerdem gilt diese Testament nicht, weil der Vater es nicht zu Gericht gebracht hatte, und wenn ich will, bin ich herzlichst eingeladen, oben bei ihm im Obergeschoss für die paar Tage zur übernachten. Ich spürte einen tiefen Schmerz, die Tränen versteckte ich leise und ging mit einem neuen Gefühl weg …

  1. Kapitel

Während Jovana und alle anderen im Bus schliefen, blickte ich durchs Fenster weit in die dunkle Ferne, wir fuhren an vielen Wiesen, Feldern, Häusern, Seen und Flüssen vorbei. Ich konnte nicht schlafen, ich dachte über vieles nach, vor allem darüber, dass ich müde und alt geworden bin und dass ich mich sehr danach sehnte, in meine Heimat zurückzugehen, aber wo und wie? Wer wartet noch auf mich? Dann erschien mir wie ein Blitz, als würde mir jemand zuflüstern: «Dana». Ein warmes Gefühl der Geborgenheit überkam mich und meine Augen füllten sich mit Tränen.

Ein Ort, der in keinem Reisebüro steht

Der Taxi-Fahrer zog energisch den überdimensionalen eckigen Koffer aus dem Gepäckraum heraus. Er stellte ihn erleichtert neben der verrosteten alten Metalltür ab. Es war Nacht, 2 Uhr früh, die Luft war wohltuend, ein sanfter Wind berührte meinen langersehnten Kindheitsplatz. Ein Platz, der mir immer wieder weit offene Arme entgegenstreckt. Ein Ort, der mittellos ist, nicht geben kann und einen doch sättigt, er steht in keinem Reisebüro und dennoch ist er mir bekannt.
Hinter uns wedelte ein großer, schwarzer Hund freundlich mit seinem kurzen Schwanz, seine großen, dunklen Augen leuchteten vertraut und freundlich. Jovana versuchte, die alte Gartentüre zu öffnen, ohne Erfolg. Ich drückte sie fest nach innen, sie quietschte leicht und ging auf. Große Betonplatten lagen im Garten, in der Mitte lagen Stiegen, schwere grüne Äpfel hingen tief hinunter, ein Zwergnektarinenbaum, seine Früchte klein und geschrumpft, ein schmales, gemeißeltes Monument, aus dem ein Wasserhahn hervorblickte, ein zweiter niedriger Baum, auch seine Früchte waren mickrig, neben dem Wassermonument eine Fläche mit einem alten Bretterzaun umschlossen. Wo die Betonplatten aufhörten, stand ein zweites Haus, Ziegel und Baustoff blickten hervor, große Fenster und niedrige Kuppel. Trümmer lagen angelehnt an die weiße Türe. Trostlos wartete alles auf seine Vollendung, und wenn der Herr des Hauses sich mehr Mühe gegeben hätte, wäre dieser niedrige, unvollendete Gegenstand, der seit Jahren unbewohnt ist, ein zuckersüßes Prachtstück in dieser historischen Straße meiner Kindheit, die nur aus ein paar Häusern besteht und auf Satellitenbildern eine klitzekleine Linie ist. Auf der anderen Seite ein langgezogenes Haus, zwei niedrige Fenster in der Mitte, eine Türe mit Fenster, eine Überdachung. Ein schwaches Licht, das auf unsere Koffer, die auf dem Beton lagen, fiel, ein überdimensionaler runder Tisch, eine bunte, zerrissene Tischdecke, ein Elektroherd, ein Kasten mit weißen Rolltüren, auf ihm verschiedene Dosen, eine schmale lange Bank aus Holz streckte sich der Veranda entlang. Hinter dem niedrigen Fenster war es dunkel. Jovana klopfte ein paar mal vorsichtig, nichts rührte sich. Das Taxi fuhr weg. «Dano! Dano! Dano!», rief ich laut.

Als hätte sie all ihr Leid und Kummer für einen Augenblick vergessen

Eine zierliche kleine Frau kam schlurfend heraus, sie hatte einen blauen Morgenmantel an, ihre großen Kastanienaugen blickten müde und erschöpft, dennoch erschien ein strahlendes Lachen und Freude in ihrem braunen, eingefallenen, alten Gesicht. «Vero, ja sam te čekala» (Vero, ich habe auf dich gewartet), rief sie energisch und mit Freude erfüllt. Wir umarmten uns und ein Gefühl erwachte in meinem Herz, nach dem ich mich seit Jahren gesehnt hatte. Trotz ihres schwachen, alten Körpers erschien sie, als hätte sie all ihr Leid und ihren Kummer für einen Augenblick vergessen, als ob Alzheimer niemals ihre Gedankengänge betastete. Als ob die vergangenen 70 Jahre nicht stattgefunden hätten, und die vielen einsamen Tage nach dem Tod ihres Mannes. Als seien diese Nachbarn in ihrer Straße die liebsten Menschen in Serbien, die ihr jeden Tag eine warme Mahlzeit brachten, sie ohne einen Dinar Bezahlung badeten, ihr die Haare rot färbten, mit weißen Glitzerlack ihre Nägel lackierten, mit ihr einen Heimatfilm schauten. Vor allem, als hörte sie das langersehnte Gelächter ihrer drei Töchter. Einen köstlichen Duft verbreiteten gebratene Kartoffeln mit Schweineschmalz und Vegeta. Und die Verwandten, die jahrelang nicht an diesem runden Tisch gesessen waren, saßen wieder da. Augenblicklich schien mir, dass diese Nacht im Juni in ihrem Herzen Hoffnungen, Wünsche und einen zeitlosen Geist vereinte. Auch meiner Seele tat es so gut, dieses vertraute Gesicht zu sehen und diese Stimme zu hören, sie brachte mich in meine Kindheit zurück. Als würde Radovan am alten Akazienbaum Sara in der Schaukel wiegen. Für mich erschien ihr rotes Haar und ihr Lachen, als würde sie mich in dieser milden, späten Sommerstunde zu den drei Walnussbäumen hinter dem Haus bringen. Dort, wo das alte Plumpsklo lag, wo Strahinja, Miljana, Mira, Radovan die schönen großen Nüsse sammelten für den Winter und sie auf den Dachboden legten, damit wir im Winter etwas zu knacken hatten, oder Murmeln mit ihnen spielten. Wo der Akazienbaum uns Kindern Schatten spendete und wo die weiße Ziege Bela herumkletterte, um die saftigen Blüten zu verschlingen. Und damals, als meine Mutter ging und ich schreiend in der Wiege nach Muttermilch weinte. Zweiundfünfzig Jahre kenne ich dieses vertraute Gesicht. Wir beide träumten in dieser Nacht von einer Welt, die niemals mehr zurückkommen würde. Sie träumte vor allem von ihren drei Kindern, die nicht mehr im Streit waren und sie öfter besuchten, bei ihr sogar wohnten. Platz hätte sie für alle drei. Wenn sie auch keine Betten hatte, doch in ihrem Herzen gab es viel Platz.

Die letzten Erinnerungen an diesem Ort

Es war ein Sonntag, ich stand ganz früh auf, als die Spatzen an Cukas Haus erste Melodien sangen, sie noch tief und fest schlief, ging ich leise die Straße entlang, ich sah den Sonnenaufgang. Dort wo wir als Kinder hinter dem Haus von Mladen spielten am Ende der Straße, wo Weizenfelder begannen, leuchtete die Sonne in einem goldenen Licht, wie ich es bis jetzt noch nie gesehen hatte, während zwei schwarze, große Vögel, also ob sie voneinander Abschied nehmen würden, eine traurige Melodie sangen. Ich wusste ganz tief in meinem Herzen, dies sind die letzten Erinnerungen an diesem Ort.
Ich ahnte, wenn ich wieder komme, wird niemals die Sonne so leuchten wie heute …
Und die zwei seltsamen Vögel werden weit voneinander sein.
Ein leises Lebewohl mit Dankbarkeit sprach ich zur Sonne, zu den Feldern und zu dieser zierlichen Gestalt, die jetzt noch tief schlief, ein Schmerz mit Tränen durchdrang noch einmal eine vergangene Zeit, ein Mädchen, das einmal eine Heimat hatte. Nach meiner Rückkehr nach Wien ging Dana in ein Heim in einem Ort, wo keine Walnüsse wachsen.

Gewidmet meiner Tante Dana

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