Herr Groll auf Reisen, 397. Folge
Auf dem Weg von der Urania zum Nestroyplatz nahmen der Dozent und Herr Groll die Tempelgasse. Vor drei hohen weißen Säulen hielten sie inne. Hier sei der Eingang zum berühmten Psychosozialen Zentrum ESRA, erklärte der Dozent. «Es wurde vor fünfundzwanzig Jahren für Überlebende des Holocaust, jüdische Migrantinnen und migranten und für die jüdische Bevölkerung Wiens eingerichtet. Mittlerweile behandelt das ESRA traumatisierte Asylsuchende aller Konfessionen.»
«Was hat es mit den drei Säulen auf sich?», fragte Groll.
«Sie erinnern an den Großen Leopoldstädter Tempel, einst die größte Synagoge Österreichs, die dreitausendfünfhundert Menschen aufnehmen konnte», sagte der Dozent. «Am 9. und 10. November 1938 stürmten Wiener SS´ler und ein ihnen höriger Mob den Tempel, verwüsteten ihn und brannten ihn nieder. Teile der Wiener Bevölkerung feuerten die Brand- und Mordbrenner an. Die Polizei sah tatenlos zu. Das gesamte Feuerwehrpersonal Wiens war während des Pogroms zum Schutz der Nachbargebäude im Einsatz. Es gelang der Feuerwehr in allen Fällen, die Nachbargebäude zu schützen, Löschversuche der brennenden Synagogen wurden nicht unternommen. Dafür gibt es Gründe. Zum einen hatten SS-Rollkommandos die Feuerwehr von den geplanten Brandstiftungen mit dem Zusatz in Kenntnis gesetzt, dass Löschangriffe zu unterbleiben hätten. Das war nur folgerichtig, denn der Kommandant der Wiener Berufsfeuerwehr, Johann Stanzig, war ein strammer Nazi. Bereits seit 1933 Mitglied der NSDAP, bewarb er sich 1937 für die SS und wurde später SS-Standartenführer. Er galt als Prototyp eines rücksichtslosen SS-Offiziers. Die SS-Standarte 89 hatte bereits beim Juliputsch der Nazis im Jahr 1934 ihre Handschrift hinterlassen, Angehörige der Standarte 89 erschossen Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes und den Bundeskanzler Dollfuß. Von den 169 Todesopfern des ‹NS-Juliputsches 1934› ging ein erklecklicher Teil auf das Konto der Standarte 89, die nie mehr als rund 150 Mann umfasste. Schon in der Zeit des Austrofaschismus waren die Sicherheitsbehörden in Wien von Nazis unterwandert, manche haben sich das Nazitum aber schon vorher zu eigen gemacht.»
«Sie sind gut vorbereitet», sagte Herr Groll anerkennend.
«Wie immer, wenn ich mit Ihnen unterwegs bin», erwiderte der Dozent. «Sagt Ihnen der Name Silberbauer etwas?», fragte Groll.
«Durchaus!», erwiderte der Dozent. «Norbert Silberbauer war ein Schriftsteller und Lehrer aus Retz. Er verfasste kluge Theaterstücke voll Witz und schrieb eine wunderbare Prosa. Vor mehr als zehn Jahren setzte er seinem Leben nach dem Erhalt einer bösen Diagnose ein Ende.»
«Ich habe alles von ihm gelesen und stimme Ihrem Urteil über seine Arbeiten zu», sagte Groll. «Es gibt aber noch einen Silberbauer, der es zu einiger Bekanntheit brachte, leider aufgrund einer entsetzlichen Tat. Er hieß mit Vornamen Karl Josef und war ein aus Wien stammender SS-Oberscharführer im NS-Sicherheitsdienst. Er war jener Polizist, der Anne Frankund ihre Familie im August 1944 in Amsterdam verhaftete. Im April 1945 kehrte er nach Wien zurück und wurde erst 1946 vom Dienst suspendiert. Nach weiteren sechs Jahren klagte man ihn wegen seiner NS-Untaten an – er hatte ja nicht nur Anne Frank verhaftet –, wurde aber wegen Befehlsnotstand freigesprochen und arbeitete bereits 1954 wieder bei der Wiener Polizei, bei der er unbehelligt in Rente ging und 1972 starb.»
«Ein österreichische Karriere», bemerkte der Dozent.
«Aber nicht so harmlos wie Qualtingers Herr Karl», entgegnete Groll.
«In Ihren Augen ist der Herr Karl eine Verharmlosung?»
«Deswegen wurde er ja so populär. Viele Österreicher versöhnten sich durch ihn mit der NS-Zeit. ‹Man musste mitlaufen, es war halt eine schwere Zeit. Aber ein bissl großartig war sie auch.› Und so stehen wir achtzig Jahre nach der Nazizeit vor drei Säulen, und eine ist so einsam wie die andere.»
«Und die jüdische Bevölkerung erreicht nicht einmal mehr ein Zehntel der Vorkriegsstärke», ergänzte der Dozent.
«Den Krieg gegen die Rote Armee haben die Faschisten verloren, aber den Krieg gegen die Wehrlosen – Juden, Roma und Sinti sowie behinderte Menschen – haben die tapferen SS-Krieger gewonnen», schloss Herr Groll. »Kommen Sie, ich lade Sie auf ein Glas Wein ins Café Hamakom um die Ecke.»
Langsam setzten die beiden sich in Bewegung.