Ein Raum für Emotionentun & lassen

Über den Umgang mit Tod und Trauer in der Sozialarbeit, und die Frage, ob «Professionalisierung» hier die richtige Strategie ist.

Essay: Teo Klug
Fotos: Jana Madzigon

Sie sagen, Johnny sei gestorben. Er habe das Krankenhaus am ersten Februarwochenende nicht lebend verlassen. Aber wissen sie denn nicht, dass Obdachlose unsterblich sind?
Johnny war obdachlos und der einzige Bewohner des Ippisch-Stegs. Eine Brücke für zu Fuß Gehende, die auf den Döblinger Steg führt, der den 20. mit dem 19. Bezirk verbindet. Ich habe ihn fast zwei Jahre mehrmals wöchentlich im Rahmen meiner Tätigkeit als Straßensozialarbeiter angetroffen. Wie in jeder Profession, die mit Menschen zu tun hat, sind wir in der Sozialen Arbeit auch mit dem Thema Tod konfrontiert. Je nach Bereich fällt die Auseinandersetzung und Intensität unterschiedlich aus. Im Altenpflegebereich ist es natürlich anders als im Kindergarten. Auf der Universität anders als im Gefängnis und so weiter. Und doch müssen alle im Beruf einen Umgang mit dem Thema finden. Das wird uns in der Sozialen Arbeit aber gar nicht so leicht gemacht.
Der Tod, so lässt sich festhalten, ist erst mal das Problem der Lebenden. Und dazu ist es individuell schwer, sich den Tod überhaupt vorzustellen. Er bringt uns an die Grenzen des Denkbaren, weil er genau die Abwesenheit allen Denkens auszeichnet. So überkommt uns mit jeder Konfrontation des Todes eine Überforderung. Doch wie mit der Überforderung umgehen, wenn sie zu deinem beruflichen, vielleicht nicht unbedingt Alltag, aber doch festen Bestandteil zählt, wie in der Sozialarbeit?
Professionalität und Betroffenheit. Klar ist, dass ein Umgang gefunden werden muss, Tod muss als Teil der Arbeit irgendwie rationalisiert werden. Die Rationalisierung als Wahrscheinlichkeit der eigenen Arbeit lässt Tod allerdings als etwas Gewöhnliches erscheinen. Und gerade die Gewöhnung ans Irrationale ließ mich, lässt uns in der Sozialen Arbeit abstumpfen.
Die Abstumpfung wird in der Sozialen Arbeit oft als «Professionalisierung» geführt. Da zählt Professionalität als der Grad, der zu erreichen ist: Eins ist professionell, wenn eins nach der Arbeit nicht mehr an die Arbeit denkt, wenn also auch Themen wie der Tod in der Arbeit gelassen werden können. Eins ist auf der anderen Seite unprofessionell, wenn die private Nummer weitergegeben wird, um eine der vielen «provisorischen» Lösungen in der Sozialen Arbeit zu ermöglichen – die Soziale Arbeit tut zwar auf transparente Profession, aber alle im Feld wissen, dass es die Ausnahmen sind, die die Soziale Arbeit am Laufen halten. Konzepte sind schön – Ausnahmen funktionieren. Professionalität und Abstumpfung sind kein Widerspruch, sondern konstitutionell. Wir in der Sozialen Arbeit müssen abstumpfen, um handlungsfähig zu bleiben. Ein Dilemma, das sich nicht so einfach auflösen lässt, und es bleibt offen, wo es Raum zum Trauern gibt.

Ökonomisierung kennt keinen Tod.

«Umstrukturierungen», wie es so schön heißt, nach Effizienz und quantifizierbaren Kriterien: etwa fixe Beratungszeiten von maximal 15 Minuten pro hilfesuchender Person; eine Anzahl von zu erledigenden Hausbesuchen pro Schicht; oder für über 400 Kinder einer Schule die Ansprechperson sein. Der Einzug von neoliberalen Ansätzen, gepaart mit Stellenabbau und Tätigkeitserweiterungen (Stichwort «Digitalisierung») durchzieht auch die Soziale Arbeit. Die Arbeit am Menschen wird nach Parametern ausgerichtet, die wenig mit Menschen und noch weniger für Menschen gemacht sind. Dazu kommen Bereiche mit chronischer Unterbesetzung, wo Personalkosten gespart werden, mit dem Wissen, dass die Mehrarbeit auf die restlichen Mitarbeitenden fällt. Im Winterpaket etwa – dem jährlichen Hilfsprogramm der Stadt Wien in den kalten Monaten für Menschen, die von Wohnungsnot betroffen sind – ist dieser Zustand systematisch. Jedes Jahr aufs Neue zeigt das die «Initiative Sommerpaket», eine selbstorganisierte Gruppe von Sozialarbeiter_innen, auf.
In so einem Klima kann es keinen Raum für die Verarbeitung von Trauer geben. Hier spitzt sich das Dilemma zu: Auf Arbeit kann und darf nicht getrauert werden, und wenn ich die Trauer mit nachhause nehme, bin ich unprofessionell.
Viele der Armutsbetroffenen sind durch die systematische Ausgrenzung und ihre Marginalisierung isoliert. Oft sind es Sozialarbeitende, die eine wichtige Brücke darstellen für ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe. Die Rationalisierung von Arbeitsabläufen untergräbt dabei die Zwischenmenschlichkeit zunehmend. Obdachlose Menschen sind auf der einen Seite im Stadtbild sehr exponiert, gleichzeitig werden ihre Bedürfnisse aber nicht wahrgenommen.

Verantwortung der Gesellschaft.

Erst wenn Überlegungen zu Trauer im Arbeitskontext berücksichtigt werden, kann Erinnerung und damit Würdigung der Menschen ermöglicht werden. Nur wenn wir das schaffen, können wir als Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Ein aktives Erinnern sollte ins Zentrum gestellt werden, dazu muss die Möglichkeit der Trauer aktiver Teil unserer Arbeit sein. Emotionen brauchen Raum, um sich entfalten zu können. Unterdrückte Gefühle führen nur abermals zu Abstumpfung. Menschen dürfen nicht nur als kalte Zahlen in Statistiken auftauchen. Das ist entmenschlichend und verstäkt das Vergessen und die Ausgrenzung.
Bei der Beerdigung von Johnny am Zentralfriedhof, an einem schönen, sonnigen und sehr kalten Donnerstag im Februar um 8 Uhr morgens, kamen ein paar Anrainer_innen und ehemalige Kolleg_innen zur Beisetzung zusammen. Die Schicksalsgemeinschaft hat sich in dem Moment gebildet, als wir unsere Erinnerungen geteilt haben, wir einen Raum geschaffen haben, in dem wir gemeinsam trauern konnten. Leider waren keine Companions von Johnny da. Sowohl die Zeit als auch die Unmöglichkeit, sie alle über die Beisetzung zu informieren, stellte ein großes Hindernis dar.

Rest in Power.

Es lässt sich vermuten, dass mit dem Schriftzug auf den Stiegen, Rest in Power, der Trauer Raum gegeben wurde. Die schreibende Person teilt sich selbst gegenüber mit, dass sie trauert, und uns, dass getrauert wird. So schreibt sich die Trauer sichtbar in das Stadtbild ein. Sie steigt «von unten» an die Oberfläche und irritiert das Stadtbild Wiens. Die bereinigten Straßen, polierten Wände und gepflegten Statuen geben sehr direkt vor, wessen gedacht wird und wessen nicht.
Der argentinische Dicher Jorge Luis Borges spricht in seinem Gedicht
Der Augenzeuge von einem Weltgedächtnis. Eine Erinnerung jenseits unserer etablierten Geschichtsschreibung. Einem Wissen, das keine Unterschiede einzieht. Vielleicht ein universelles Wissen, das weder vergisst noch Erinnerung hierarchisiert. Mit Borges denke ich daran, wie Johnny Teil dieses unendlichen Wissens ist, und lade euch ein, für einen Moment an der Rampengasse im 19. Bezirk innezuhalten. Innezuhalten, um sich gegen das allgemeine gesellschaftliche Vergessen zu richten und um Johnny, dem einzigen Bewohner des Ippisch-Stegs, zu gedenken. Seine freundlichen Begrüßungen in diversen Sprachen, von Salam Aleikum über Szia, Grüß Gott, Salut zu Shalom und Good Morning und seine Musikalität, die sich im spontanen Singen von Liedern äußerte, hinterlassen eine Leerstelle. Johnny war bescheiden, oft bat er nur um ein, zwei Zigaretten und Batterien für sein mobiles Radio. Doch steht Johnny für mich auch als Zeuge für eine Form von struktureller Gewalt. Denn zu den Hochzeiten der zweiten schwarz-blauen (bzw. türkis-blauen) Regierung, so berichtete er mir, wäre es vorgekommen, dass er drei Mal an einem Tag nach Ungarn abgeschoben wurde. Immer habe er sich direkt in den nächsten Zug gesetzt, um zu seiner Stiege zurückzukommen. Mehr als 20 Jahre lebte er in Salzburg und Wien. Lassen wir Johnny durch unser Erinnern unsterblich werden. Rest in Power, Johnny