Auf Schloss Lind wird Heimat- und Zeitgeschichte mit den Mitteln der Kunst nachgezeichnet. Ein Besuch im «anderen Heimatmuseum».
Unter Heimat wird viel verstanden. Mit allen zeitgenössischen Nuancen mäandert ihre Bedeutung oft zwischen Lodenjanker und dem Ausverkauf derselben. Es versteckt sich viel hinter der Heimat und auch dem, was von ihr in Museen dokumentiert wird. Mancherorts sind es Sammlungen von regionalen Artefakten, mit einem Foto von Karl I. am Dorfplatz, umgeben von Gesangsvereinen und der Feuerwehr. So ein Ort will «Schloss Lind – das andere Heimatmuseum» bei Neumarkt in der Steiermark nicht sein: Brauchtum spielt natürlich eine Rolle, vergangenes und gegenwärtiges, aber kuratiert aufgearbeitet und künstlerisch umgesetzt. Dieses andere Heimatmuseum geht ehrlich mit der Vergangenheit um und verarbeitet sie als Fundament der Gegenwart. Vor «Heimat Fälschung» wird sogar explizit gewarnt. Ein Teil der Räume der über Jahre hinweg restaurierten und in Schloss umbenannten Burg ist Ausstellungsstücken, Büchern, Bildern und Skulpturen gewidmet. Ein großer Teil der Fläche beherbergt außerdem Kunstinstallationen mit wechselnden Protagonist:innen. «Es ist ein Hybrid aus Gesamtkunstwerk, Ausstellung und Gedenkstätte», sagt der Autor und Theatermacher Andreas Staudinger, der das Museum seit 2011 gemeinsam mit Britta Sievers betreut. «Dieser Ort ist ein Unikat in der Galerienlandschaft Österreichs. Ich verstehe es als ein riesiges Spiel- und Experimentierfeld, vor allem für zeit- und ortsspezifische Kunst.» Nicht zuletzt sind Schloss und Umgebung auch der Lebensraum von Staudinger und seiner Frau: Sie bewohnen ein kleines Haus am See im «Schlosspark», weil es in den alten Mauern im Winter zu kalt wird. Schloss Lind zu beheizen würde den Rahmen der finanziellen Möglichkeiten sprengen: Staudinger erhält zwar für die stattfindenden Kulturveranstaltungen Förderungen, nicht aber für die Erhaltung der Bausubstanz. Und das Schlossmuseum ist groß: 2000 Quadratmeter umfasst alleine die Ausstellungsfläche im Haupthaus, dazu kommen noch zehn über das Gelände verteilte Outdoor-Galerien.
Ehemalige Landkommune
Vor dem Verfall gerettet wurde Schloss Lind in den 1990er-Jahren vom bildenden Künstler Aramis, der bürgerlich Hans Peter Sagmüller hieß und im Jahr 2010 nach einer schweren Krankheit Suizid beging. «Aramis kam aus dem Umfeld von Elfriede Jelinek, Günther Nenning, Mühl, Nitsch. Er entwickelte vier Landkommunen, diese hier war sein letztes Projekt», sagt Andreas Staudinger. Realisiert wurde das «Bauvorhaben und Gesamtkunstwerk Schloss Lind» dann letztlich in Zusammenarbeit mit Student:innen der TU-Graz über einen Zeitraum von fast 20 Jahren hinweg. Einige Installationen und Ausstellungen spiegeln die Welt von Aramis wider. Das heutige Schloss sieht Staudinger einerseits als Kunstort, gleichzeitig sei es aber auch ein «Museum in Bewegung, weil es in die Region hinein etwas zu bewirken versucht.» Und es ist ein Gedenkort: Während der Nazi-Herrschaft war Schloss Lind als Nebenstelle von Mauthausen das kleinste der etwa 50 österreichischen Konzentrationslager. Interniert waren 20 bis 30 politische Häftlinge und 50 russische Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter in der Region eingesetzt wurden. Eine Dauerausstellung erinnert daran: «Wir bemühen uns, die Zeit nicht nur mit den Möglichkeiten der Wissenschaft aufzuarbeiten, sondern auch mit den Möglichkeiten der Kunst. Deshalb sind wir immer auf der Suche nach neuen Ansätzen, wie man Gedenkkunst im 21. Jahrhundert gestalten kann.» Das allerdings werde immer schwieriger, weil «die Zeitzeugen aussterben und eine Generation kommt, für die das schon den Charakter einer Bilderbuchgeschichte hat.» Staudinger ist aber auch davon überzeugt, dass Landschaften sowie die Ruinen und Reste von Bauwerken «eine ganz spezielle Form von Gedächtnis beherbergen» können, schreibt er in der Publikation das andere heimatmuseum (edition PRO:vinz). Auschwitz etwa sei so ein Ort, der einerseits «real ist (denn es wurden echte Menschen dort ermordet) als auch imaginär (denn er dient als Projektionsfläche für kollektives Erinnern.» Aus diesem Blickwinkel sollte man das dritte Stockwerk von Schloss Lind betrachten: als eine wieder wahr gewordene Erinnerung. Vielleicht könnte man auch sagen: als rückgebaute Geschichte. «Das eilige Verwischen der Spuren in den Nachkriegsjahren, jener angestrengte Wiederaufbau, diese Erfolgsgeschichte und Wirtschaftswunderlichkeit hinterlassen uns Heutigen die Aufgaben einer Spurensuche, von Ausgrabungsprojekten, vom Rückbau des Zugebauten, des Abkratzens des Zugekleisterten», lautet ein Aramis-Credo: «Freizulegen ist vielerorts das Menetekel des 20. Jahrhunderts.»
Galerie Saustall
Das versuchen auch Installationen verschiedener Künstler:innen, wie derzeit etwa Klaus Oberhammer, der mit seinen Arbeiten zwei Räume bespielt. In der «Galerie Saustall» ordnet er Badewannen, Waschschalen und Fotos zu einem schmerzhaften AN-TRETEN ZUM … an. Und in der mit einem kleinen Aufstieg in Richtung Zinnen verbundenen «Turmgalerie 4» setzt er sich mit WORT-BRUCH BRUCH-STABEN auseinander. Es sind Installationen, die man sich erarbeiten muss, und die vor allem in der speziellen Umgebung des Schlosses wirken – wie die hauptsächlich aus Miedern bestehende Installation von Marlies Liekfeld-Rapetti in der «Großen Galerie». Das passt zum «Verstrickt»-Generalthema der heurigen Ausstellungen: «Das ist ein Begriff aus der Strickerei, gleichzeitig aber auch ein Beweis dafür, dass Geschichte kein linearer Ablauf ist, sondern ein Prozess von vielen Verstrickungen in der Region», erklärt Andreas Staudinger. Dazu werden Künstler:innen eingeladen, «sich mit der Geschichte des Ortes und der Region auseinanderzusetzen».
Ehemaliges Außenlager
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1996, wurde «das andere Heimatmuseum» offiziell aus der Taufe gehoben – allerdings wurde es aufgrund seiner «beschädigten» Geschichte als KZ-Nebenstelle «in der Gegend für lange Zeit als Affront betrachtet», schreibt Staudinger: «Zu gut hatte man das ehemalige Außenlager nach dem Krieg wieder verschwinden lassen, hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg lästige Erinnerungen verdrängt, um sich die Idylle eines Luftkurorts und ‹Naturparks› nicht verderben zu lassen, hatte man sich eingerichtet im ‹seligen Vergessen›.» Das hat sich über die Jahre geändert: «Mittlerweile sind wir ein Bestandteil der regionalen Ortskultur geworden», freut sich Staudinger. Der Weg dorthin war recht langwierig, das andauernde Bemühen, neben dem Museumsbetrieb zwischen Mai und Oktober auch Lesungen, Performances und Konzerte zu bieten, hat Früchte getragen. «Wir versuchen für die Region, die von Kunst nicht so verwöhnt ist, ein Andockpunkt zu sein. Wir freuen uns immer über Besucher, machen das aber vor allem für die Region.» Vor einem Museumsbesuch wünscht sich Staudinger eine telefonische Anmeldung: «Es ist mir wichtig, dass Besucher, bevor sie in diesen Kosmos eintreten, etwa 20 Minuten Input bekommen. Dann können sie alleine in die Welt des Museums eintauchen, und die spricht ohnehin für sich.»
Eine Melange
Die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln wirkt übrigens recht entschleunigend: Egal ob man von Wien, Graz oder Klagenfurt kommt, dauert sie zwischen vier und sieben Stunden, inklusive einem kleinen Spaziergang, da das Schloss nicht direkt neben einer Haltestelle liegt. Wer die schöne steirische Landschaft genießen will, hat also viel Gelegenheit dazu. Wer nicht mit dem Auto kommt, sollte sich in der Umgebung nach einem Zimmer umsehen, denn als Station einer Wanderung oder einer Fahrradtour ist das Schloss bestens geeignet. Um die Kulinarik muss man sich allerdings selbst kümmern: Im Museum gibt es zwar eine Melange aus Zeitgeschichte und Kunst – aber keine Küche.
8820 Neumarkt/Stmk, St. Marein 28
Voranmeldung unter 03584/3091 oder
info@schlosslind.at
www.schlosslind.at