Das bewegte Leben einer Augustinverkäuferin aus Georgien
Der Charme einer georgischen Großmutter erspart dem Augustin in Wiener Neudorf alle weiteren PR-Maßnahmen. Ihr Lächeln erzeugt eine rätselhafte Schönheit in ihrem Gesicht, das den InterviewerInnen in der Augustin-Redaktion ebenso wenig verborgen bleibt wie den Billa-KundInnen, die „ihre“ Kolporteurin so gewohnt sind, dass sie irritiert wären, wenn sie nicht mehr erschiene. Viele von ihnen kennen bereits die private Mehrfach-Katastrophe, die Dali Bakaschwili hinter sich hat; umso mehr staunen sie über die positive Ausstrahlung der Georgierin.Seit drei Jahren lebt Dali Bakaschwili mit ihrem Mann und ihrem 13-jährigen Enkelsohn Willi in Österreich, -zunächst in Hartberg, heute in Leobersdorf bei Wien. „Ich kenne nur nette Österreicher, bloß beim Vater von Willi bin ich mir nicht sicher“, grinst Dali. Ausgerechnet der aber ist der Grund, warum die Bakaschwilis Österreich zum Asylland wählten: Wilhelms Vater ist Österreicher, er hatte Dalis Tochter schwanger gemacht, als er als Businessman im entbolschewierten Tbilissi zur Osterweiterung des Westens beitrug, freilich will er von dieser privaten Episode seines Georgienengagements nichts mehr wissen. „Wir haben seine Vaterschaft feststellen lassen und kämpfen seit drei Jahren um unser Recht auf Alimente“, sagt Dali Bakaschwili.
Die Alimente würden den Lebensstandard der georgischen Flüchtlingsfamilie auf eine neue Stufe heben. 220 Euro für die Wohnung, 180 Euro für das Leben, 80 Euro für das Kind, so teilt sich die Sozialhilfe auf, die das Land Niederösterreich zahlt. Wie lange noch, das wissen die Bakaschwilis nicht. „Das ist ein psychisches Problem, wenn man so dahinlebt, ohne zu wissen, was man zu erwarten hat und ob man sich hier für immer einrichten kann“, verdeutlicht Dali die prekäre Lage, in der sie sich seit drei Jahren befinden.
„Schreiben Sie: Danke, Augustin! Ohne den Augustin wüssten wir nicht, wie wir hier überleben könnten. Gut, dass mein Mann hier in Wien einen Freund aus Georgien kannte, der über den Augustin bereits Bescheid wusste und ihn als Hilfsangebot weiterempfahl,“ beschreibt Dali ihren Rettungsanker und nimmt ihre Euphorie schließlich ein wenig zurück: -Doch, es gibt ein Plus und ein Minus in dieser Arbeit.
Minus: Bei jedem Wetter stehen. Plus: Ich hab viele Freunde gewonnen, meine Stammkunden. Menschen, die mir moralisch und materiell helfen. Auf diesem Weg möchte ich mich bei den Menschen aus Wiener Neudorf bedanken.
Der Mann verkauft in Biedermannsdorf, manchmal vor Billa, manchmal vor Hofer. Wer gewinnt den familieninternen Kolportagewettbewerb? wollen wir wissen und kriegen die Antwort, die wir erwarten. „Natürlich ich, lacht Dali, -Ich bin die Kommunikativere von uns beiden.“
Innerhalb von drei Monaten Sohn und Tochter verloren
Unsere Gesprächspartnerin bittet, zu akzeptieren, dass sie nicht gerne über Politik redet, bevor sie uns die Hintergründe der Emigration in den Westen darlegt: „Ich habe mit meiner Familie in der Hauptstadt Tbilissi gelebt. Natürlich bedeutete die Perestroika, die etwas, was sich Kommunismus nannte, was aber nichts von dieser Utopie vorwegnahm, auflöste, und die die Sowjetunion beendete, gesellschaftlichen Fortschritt. Für mich persönlich aber sind die 15 Jahre nach dem Ende der UdSSR verlorene Jahre. Ich habe die Heimat verloren, ich habe die Tochter durch Krebs, den Sohn durch einen Autounfall verloren, und das innerhalb von drei Monaten, ich habe die Wohnung in der Hauptstadt verloren. Vor der Perestroika war ich jung, hatte Arbeit und Einkommen, hatte Kinder – und lebte in einer multikulturellen Stadt, in der es noch kein Problem war, wenn eine Georgierin wie ich mit einem Osseten zusammen war. In der es selbstverständlich war, dass Georgier russische, ossetische oder abchasische Verwandte hatten. Meine Schwiegertochter zum Beispiel ist Russin. Heute gelten Russen in Tbilissi als unerwünscht, und die Russen ihrerseits sind voller Ressentiments gegen Georgien, das früher, in der sowjetischen Zeit, als Traumland galt.
Über die politischen Aktivitäten des Ehemanns nur einige Andeutungen: „Dass Arsen, mein Mann, ossetische Wurzeln hatte und eine ossetische Identität, war der Grund unserer Probleme, die uns schließlich aus Georgien emigrieren ließen. Sein Vater ist Ossete, Arsen selber ist georgisch aufgewachsen, aber er engagierte sich für die Unabhängigkeit Südossetiens von Georgien. In diesem Klima der nationalistischen Konflikte am Kaukasus, dem Konflikt mit unseren abtrünnigen Gebieten Südossetien und Abchasien, gab es für uns keine Zukunft mehr in Georgien. Mein Mann hatte viele Feinde in Tbilissi. Wir waren nicht die einzigen, die in den Westen flüchteten, man braucht ja nur herumfragen, wie viele Georgier und Georgierinnen den Augustin verkaufen.“
Kleine Exkursion in die jüngste Geschichte dieses Staates: Nach der Oktoberrevolution erklärte sich Georgien 1918 für unabhängig. 1921 wurde die Demokratische Republik Georgien von der Roten Armee in die Sowjetunion eingegliedert. Während der späten 1980er Jahre entwickelte sich eine starke georgische Autonomiebewegung, die den russischen BewohnerInnen Georgiens und auch den Angehörigen minoritärer Ethnien das Leben hier unbequem machte. Am 9. April 1991 erklärte sich Georgien erneut für unabhängig. In Abchasien und Südossetien, Bezirken Georgiens, kam es zu Sezessionskriegen und zu einer starken Militärpräsenz Russlands in den abdriftenden Regionen. Georgien verlor den Krieg gegen Südossetien Anfang der 1990er Jahre, während in Abchasien ein instabiler Waffenstillstand herrscht. Die Abspaltung Abchasiens bedeutet vor allem auch für mögliche Tourismusperspektiven eine Katastrophe: Georgien hat damit seine „Riviera“ verloren.
Die Lehrerin, die den Augustin verkauft
Am Anfang habe sie sich geschämt, den Augustin zu verkaufen, konzediert Dali Bakaschwili. Sie wusste um sein Image als „Sandlerzeitung“ Bescheid und konnte ihr unsachtes Ankommen in der österreichischen Realität mit ihrem sozialen Status und ihrer Qualifikation mental nicht leicht in Einklang bringen (inzwischen weiß sie, dass es unter den migrantischen Augustin-KolporteurInnen nur so wimmelt von Fällen des Karriereverschleißes): „Ich habe im Pädagogischen Institut Französisch studiert, wollte Französischlehrerin werden, übte diesen Beruf aber nie aus, stattdessen arbeitete ich in der Nationalbibliothek. Inzwischen, schade darum, habe ich mein Französisch ganz vergessen. Sie müssen wissen, dass es ein historisches Sympathieverhältnis zwischen Georgien und Frankreich gab. Unsere Könige lebten in Frankreich. In der georgischen Elite war es schick, französisch zu parlieren. Überhaupt, die Lage am Schwarzen Meer bedeutete immer eine gewisse Offenheit gegenüber dem Westen.“
In Georgien sieht sie keine Perspektive für sich und ihre Angehörigen, vor allem nicht für Enkelsohn Willi, der in Baden bei Wien schulisch und in Leobersdorf fußballmäßig gut integriert ist; er wurde kürzlich in den örtlichen Fußballklub aufgenommen. Und er spricht noch besser deutsch als Großmutter Dali, deren Deutsch schon sensationell genug ist, wenn man bedenkt, dass sie vor drei Jahren noch kein Wort dieser im Vergleich zum Georgischen (Dali rezitiert ein bekanntes georgisches Gedicht, um uns mit dem Sound ihrer Heimat zu beglücken) eher unpoetischen Sprache verstand.
Poetisch wie die Sprache muss die Kochkunst der GeorgierInnen sein, wenn man Dali Glauben schenken will: „Ich werde Sie einmal zu mir einladen: Ich werde sie georgisch bekochen. Truthahn mit Nuss-Sauce. Und Chatschapuri, gebackenes Käsebrot. Dazu wäre gut eine Flasche Chwantschkara, georgischen Rotwein …“ Nur, wo in Wien wäre der aufzutreiben?
Bevor sich Dali Bakaschwili verabschiedet, schreibt sie in georgischer Schrift „Danke Augustin“ auf ein Blatt, auch um uns plausibel zu machen, dass es sich bei der georgischen Schrift um die „schönste aller Schriften auf dieser Welt“ handelt. Das sagt sie zwar nicht ohne Augenzwinkern, doch neben aller Ironie steckt auch eine große Portion Sehnsucht nach der „Rodina“ (russisch für „Heimat“) in dieser Bewertung, ein Sich-zurück-träumen in den Rustaweli-Boulevard der Hauptstadt mit seinen Cafes und seinen Demonstrationen der Hoffnung.
Die Hinterbliebenen des Interviews, bewegt: Wie schafft es diese Frau, die Schläge ihrer Biografie zu bewältigen?
Die Hinterbliebenen des Interviews, nach Auflösung der Gänsehaut: Ein Schluck Chwantschkara auf Frau Bakaschwili! Aber woher nehmen?