Ein Stern für El Cabanyalvorstadt

Über die Rettung eines Stadtviertels im spanischen Valencia

In der sonst recht gediegenen spanischen Stadt Valencia stellt das Viertel El Cabanyal (auf Valencianisch; auf Spanisch: El Cabañal) eine spannende und aufmüpfige Randerscheinung dar. Auf ihren Streifzügen haben sich Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber im barrio umgesehen.

Es ist früher Abend, als wir mit unseren Leihfahrrädern von der Strandpromenade abbiegen. Wir schieben die Räder über eine Gstettn, die zwischen halbverfallenen Fabriksgebäuden und einem Sportplatz liegt. Ein Mädchenfußballteam trainiert dort, am Rand sitzen Frauen und Männer auf Plastikstühlen und trinken Bier. Sobald wir die Straße, die parallel zur Strandpromenade verläuft, erreicht haben, steigen wir wieder auf die Fahrräder. Wir radeln die Straße entlang, die gesäumt ist von kleinen Häusern mit bunt bemalten und gekachelten Fassaden. Kinder spielen auf der Straße, Erwachsene sitzen auf wackeligen Stühlen am Straßenrand und unterhalten sich. Manche Eingangstüren stehen offen und geben den Blick frei auf die Zimmer im Erdgeschoß. Keine Vorräume, sondern Schlaf- und Wohnräume sind es, die gleich hinter den niedrigen Eingangstüren liegen. Wir biegen ab, fahren durch eine Querstraße. Auch hier wieder die Häuschen mit den bunten, teilweise in Stand gesetzten, teilweise abbröckelnden Fassaden. Dicke schwarze Kabelbündel hängen vor den Dächern, verzwirbelt zu seltsamen Gebilden, die schön, aber auch etwas beängstigend sind, schließlich fließt hier Strom. An manchen Ecken befinden sich kleine Gastgärten, terrazas, auf denen Menschen sitzen, Tapas essen und Bier trinken.

Vor einer Bar erzählt uns ein Mann, dass er aus Chile sei, seit ein paar Jahren in diesem Viertel lebe und in einem veganen Restaurant arbeite. Er gibt uns die Visitenkarte des Lokals. Es befindet sich ein paar Straßen weiter, gleich hinter dem Hafen, in den die Strandpromenade mündet, oder von dem sie ausgeht, je nachdem. Wir radebrechen auf Englisch und Spanisch, unterhalten uns über El Cabanyal, über Aufenthaltsgenehmigungen und über die Welt. Dann radeln wir weiter durch das Viertel, dessen Straßen streng in einem Schachbrettmuster angeordnet sind, und wundern uns: El Cabanyal scheint überhaupt nicht in das sonst recht gediegene Valencia mit seinen breiten Avenidas und großzügig angelegten Apartmenthäusern zu passen.

Alle Wege führen nach Cabanyal.

Und tatsächlich gibt es viel zu entdecken in diesem Viertel. Da sind neben den bunten Häuserzeilen und lebendigen Straßen die alten Fabriksgebäude. In einem dieser Backsteinbauten ist ein Kulturzentrum untergebracht – La Fábrica de Hielo, die Eisfabrik, wo regelmäßig Konzerte und Lesungen stattfinden. Als wir die Fábrica de Hielo besuchen, ist gerade Markt dort. Alte Kleidung und Krimskrams, aber auch selbst genähte Taschen, gemalte und gesprayte Bilder werden verkauft. Wir treffen einen Künstler, den wir ein paar Tage zuvor im Stadtzentrum gesehen haben. Vor der Kathedrale hat er seine Bilder zum Kauf angeboten. Wir winken uns zu und lächeln verschwörerisch: So klein ist die Stadt – nicht, aber alle Wege führen nach El Cabanyal, früher oder später.

Ein weiterer Anziehungspunkt ist das Marionettentheater La Estrella. Eine blitzblaue Hausfassade, deren Giebel ein freundlicher, weißer Stern ziert, lädt vor allem ein junges Publikum ein, sich Märchen- und Clownstücke anzusehen, die traditionelle Stoffe und Figuren mit Gegenwartsfragen verknüpfen. Die Compañía La Estrella hat 1995 ihre Pforten mitten in Cabanyal eröffnet – gerade rechtzeitig, um gegen den Abriss des Viertels zu kämpfen, das einem großen Boulevard hätte weichen sollen. Mit Sandrine und David vom Teatro sprechen wir über die Auseinandersetzungen mit der Stadt, die mehr als zehn Jahre gedauert haben.

Wie man ein barrio herunterkommen lässt.

Wir sitzen auf einer terraza auf der Plaça de la Creu del Canyamelar. Neben uns eine kleine Baustelle, die angrenzende Straße ist aufgerissen, neue Rohre werden verlegt. Die beiden Künstler_innen erzählen uns, dass El Cabanyal in den letzten Jahrzehnten von der Stadtregierung vollkommen vernachlässigt wurde. Kein Geld wurde in dieses Viertel investiert. David zeigt auf eine alte geschwungene Laterne an einer der Hausmauern, die standhaft den Charme der 50er Jahre verströmt. Erst seit wenigen Jahren wird einiges hergerichtet. Über Jahrzehnte hinweg bekam man nicht einmal die Genehmigung, sein eigenes Haus zu sanieren, selbst wenn das Dach eingestürzt ist. «Auch für das Streichen der Fassade braucht man eine Genehmigung, und die wurde nicht erteilt», ergänzt Sandrine. «Mein Vater hat in den 90er Jahren unser Theater illegal gestrichen.» David schmunzelt.

Das mehrheitlich von Arbeiter_innen bewohnte Viertel hatte Jahrzehnte lang einen schlechten Ruf, es befand sich zwar in einer guten Lage, nahe am Meer, doch es war heruntergekommen und galt als gefährlich. Gleichsam hat es seine Eigenständigkeit bewahrt. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts, damals war es noch ein kleines Fischerdorf im Vorhof der Stadt, von dieser eingemeindet. Und es erhielt den klingenden Namen El Cabanyal, den es heute noch trägt. Bereits vor der Eingemeindung gab es den Plan, einen Boulevard vom Stadtzentrum durch das Viertel zum Meer zu bauen. Diese Idee sollte knapp hundert Jahre später wieder aufgegriffen werden.

Rita Barberá oder jetzt wird gebaut.

Rita Barberá, vom Aussehen Margaret Thatcher nicht unähnlich, bekleidete von 1991 bis 2015 das Amt der Bürgermeisterin. Sie war von der rechtskonservativen Partido Popular (PP), der Spanischen Volkspartei, in der sich Ex- und Neo-Franquist_innen die Hand geben. Das laufende Verfahren wegen Geldwäsche wurde nach ihrem Tod 2016 eingestellt. Während ihrer langen Regierungszeit bekam Valencia ein neues Gesicht verpasst. So entstand Anfang der 90er Jahre im ehemaligen Flussbett des Turia die «Stadt der Künste und der Wissenschaften». Dieser Gebäudekomplex gilt als neues Wahrzeichen der Stadt und ist eine faszinierende Mischung aus Postmoderne, LSD-Rausch und öffentlicher Badeanlage. Nach der Fertigstellung dieses Großprojekts 1998 widmete sich die Bürgermeisterin ihrem neuen Vorhaben – dem Boulevard, der von der City zum Stadtstrand führen sollte, mitten durch El Cabanyal.

Salvem El Cabanyal – Retten wir El Cabanyal.

David und Sandrine erzählen uns, wie sich damals eine Plattform zur Rettung des barrios gründete. Die Versammlungen fanden im Theatersaal statt. Hier planten sie ihre Aktionen, organisierten Demonstrationen und Kunstaktionen. Die Plattform ging aber auch juristische Wege. Drei Anwälte fochten auf verschiedenen Ebenen gegen den geplanten Abriss des Viertels, zumal Teile von El Cabanyal unter Ensembleschutz, einzelne Häuser sogar unter Denkmalschutz stehen. Dennoch wurden einige Gebäude abgerissen, und so kam es zu Blockaden von Baugeräten, zu Polizeieinsätzen und Verhaftungen. Die Wirtschaftskrise, die gemeinsamen Proteste und die juristischen Winkelzüge verhalfen schließlich zur Rettung des Viertels. «Salvem el Cabanyal ist eine der wenigen Erfolgsgeschichten, wo Bewohner_innen die Abrisspläne verhindern konnten», erzählt David nicht ohne Stolz. Auf die Rückfrage, ob sie sicher seien, dass der Kampf nun wirklich gewonnen wurde, nicken beide. 2015 wurde die PP abgewählt, seitdem stellt das linke Wahlbündnis Compromís mit Joan Ribó den Bürgermeister der Stadt. «Die Abrisspläne sind vom Tisch, jetzt müssen die anderen Probleme des barrios, vor allem die infrastrukturellen, gelöst werden», meinen Sandrine und David.

Wir sehen den Arbeiter_innen zu, wie sie Leitungsrohre in den aufgerissenen Asphalt legen. Die schwarzen Kabelbündel, die von den Dächern hängen, werden bald Geschichte sein. Wir wünschen uns, dass die Verbesserungen gemeinsam mit den heutigen Bewohner_innen durchgeführt werden und nicht gegen sie, zugunsten kaufkräftigerer Menschen. Es muss nicht immer dieselbe Geschichte sein …