Ein Tag am Meertun & lassen

eingSCHENKt

Einmal wird im Herbst die jährliche Unterstützung um 100 Euro erhöht, mit der jede Familie Schulsachen für die Kinder kaufen kann. «Wir fahren ans Meer», ruft Vater. Seine Freude ist so groß, dass er zur Feier mit der ganzen Familie an die See fährt.
Der Schriftsteller Édouard Louis erzählt aus seiner Kindheit aus den 90er- und 2000er-Jahren in Frankreich. Sein Vater ist Arbeiter mit kleinem Einkommen, die Familie kommt gerade so durch. «Bei denen, die alles haben, habe ich nie gesehen, dass eine Familie ans Meer fährt, um eine politische Entscheidung zu feiern», schreibt Louis. «Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren.» Louis resümiert: «Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod.»
Der Vater ist mittlerweile nach einem harten Arbeitsleben in der Fabrik und Phasen der Arbeitslosigkeit schwer krank. Die Kürzung der Sozialhilfe unter Präsident Nicolas Sarkozy, weniger Hilfen bei Medikamenten unter Jaques Chirac oder Beschimpfungen von Armutsbetroffenen unter Emmanuel Macron ruinierten seinen Alltag noch mehr. Édouard Louis: «Chirac machte deinen Darm kaputt. Sarkozy brach dir das Rückgrat. Macron hat dir die Luft genommen.»
Je ärmer, desto früher wird gestorben. In Österreich liegen zehn Jahre Lebenserwartung zwischen Arm und Reich. Soziale Ungleichheit geht unter die Haut. Politik ist eben eine Frage von Leben und Tod. Aber wer bestimmt darüber? Das ärmste Drittel der Bevölkerung geht zu 41 % bei Wahlen in Österreich nicht hin, beim reichsten Drittel sind es nur 17 %. Das heißt: Nur die Hälfte des ärmsten Drittels geht wählen, aber 80 % des reichsten. Beim untersten Drittel kommen noch alle dazu, die gar nicht wählen dürfen, aber hier ihren Lebensmittelpunkt haben, hier geboren sind, hier arbeiten. Die meisten befinden sich auch da im untersten Drittel der Bevölkerung, beschäftigt am Bau, in der Reinigung oder im Handel. Im Parlament sind also die Interessen des oberen und mittleren Drittels vertreten, die des untersten Drittels nicht. Die Gesetze werden deshalb auch für das oberste und bestenfalls für das mittlere Drittel gemacht, das untere Drittel wird übersehen. Dabei geht es für dieses um Leben und Tod.
Wer hat am wenigsten Vertrauen in die Demokratie? Die Menschen im ärmsten Drittel vertrauen am wenigsten, sagt uns der aktuelle Demokratie Monitor. Die Mehrzahl der Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel hat den Eindruck, ihre Stimme zählt nicht. Kein Wunder. Ein Teufelskreis. Wir haben eine tiefe soziale Kluft in der Demokratie.
«Du warst verrückt vor Freude», erinnert sich Édouard an seinen Vater. «Wir fuhren ans Meer. Der ganze Tag war ein reines Fest für uns.»

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Fischer 2019

eingSCHENKt auf OKTO, 16. Jänner: EUROPAS WOHNKRISE mit Karin Zauner, Sprecherin der europäischen Bürgerinitiative Housing for all. Wir reden über teures Wohnen und die notwendigen Initiativen für sozialen Wohnbau.