Ein Versuch, Kobane zu verstehenArtistin

Graphic Novel: Wenn Linke auf Solidaritätsreisen gehen …

Kobane Calling. In seinem mitreißenden Comicband beschreibt der italienische Zeichner Zerocalcare seine Reise ins umkämpfte Nordsyrien. Christof Mackinger hat die Graphic Novel gelesen.

«Wenn du Ratatata hörst, ist es der IS. Hörst du Tum Tum Tum, sind wir es.»

«Und Boom?»

«Kommt drauf an. MG-Feuer und dann Boom, das sind die Amerikaner. Boom und sonst nix, das ist der IS.»

Zerocalcare blickt verdutzt vom Flachdach seiner Unterkunft hinüber auf das erste Haus hinter der Grenze. Dort ist bereits Syrien, das Haus steht am Stadtrand von Kobane. Keine 100 Meter entfernt – und vom «Islamischen Staat» (IS) besetzt.

Begleitet von Armadillo, einem Gürteltier, dem imaginären Freund Zerocalcares, tritt eine Gruppe italienischer Linker eine Solidaritätsreise an. Ihr Ziel: Rojava, eine autonome Region im Norden Syriens. Unter ihnen: Zerocalcare, ein junger Mann, der mit «Kobane Calling» ihre gemeinsame Reise dokumentiert.

Ein Gürteltier in Rojava.

Unter dem Eindruck der gewalttätigen Polizeiübergriffe gegen Demonstrant_innen beim G8-Gipfel in Genua 2001 begann Zerocalcare, Aktivist aus dem Umfeld der autonomen Szene Roms, Comicstrips zu illustrieren. In seiner ersten Graphic Novel «La profezia dell’armadillo» («Die Prophezeiung des Gürteltiers») reflektiert der Illustrator sein eigenes Leben und seine Beziehungen. Stets begleitet wird Zerocalcare dabei von Armadillo, einem imaginierten Gürteltier, das die Ängste und Unsicherheiten des Autors verbildlicht. Erst unlängst gab Michele Rech, wie Zerocalcare im bürgerlichen Namen heißt, bekannt, dass sein bisher nur in italienischer Sprache erschienenes Buch «La profezia dell’armadillo» verfilmt werden soll. Seit 2011 betreibt Zerocalcare einen Blog (www.zerocalcare.it), auf dem er regelmäßig Comicstrips veröffentlicht.

Mit «Kobane Calling» hat Zerocalcare eines seiner bisher politischsten Bücher veröffentlicht. Es ist das einzige seiner Werke, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Wie viele westliche Linke besuchte der Künstler Rojava, also das westliche Kurdistan, um sich selbst ein Bild der Zerstörung durch den «Islamischen Staat» zu machen und die selbstverwaltete Gesellschaft der Kurd_innen und ihrer Verbündeten kennenzulernen.

Selbstverwaltung vs. Mordregime.

Rojava, eine autonome Region im Norden Syriens, wurde im Jahr 2014 offiziell ausgerufen. Aufgrund des kampflosen Rückzugs der Truppen des Assad-Regimes war es der ansässigen Bevölkerung bereits seit 2012 möglich, die Selbstverwaltung aufzubauen. Die in der Region traditionell sehr stark verankerte kurdische Bevölkerung etablierte gemeinsam mit den ebenfalls dort lebenden Volksgruppen der Araber_innen und Assyrer_innen eine demokratische Selbstverwaltung auf Basis der Idee des demokratischen Konföderalismus. Diese Form der Organisierung hat zum Ziel, den Staat durch Strukturen der Selbstverwaltung zu ersetzen und eine demokratische sowie ökologische Gesellschaft aufzubauen. Angestrebt wird nicht nur das gleichberechtigte Nebeneinander unterschiedlicher ethnischer Gruppen, sondern auch das der Geschlechter, weswegen jegliche Führungspositionen jeweils von einer Frau und einem Mann nebeneinander besetzt werden. Die Etablierung und Aufrechterhaltung der Selbstverwaltung erweist sich in der Region jedoch als besondere Herausforderung, da nicht nur die angrenzenden Staaten Irak und Türkei ein Wirtschaftsembargo gegen Rojava verhängt haben, das den Außenhandel quasi verunmöglicht; die Situation in Rojava ist auch überaus angespannt, weil der «Islamische Staat» in unmittelbarer Nähe seit Jahren brutal mordet.

Anfang 2014 wurde die Provinzhauptstadt Kobane in Rojava ein Symbol des Widerstands gegen den fundamentalistischen Terror des «Islamischen Staates». Die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG sowie YPJ erlangten weltweit Berühmtheit für ihren unerbittlichen Kampf um die Stadt. Seit die YPG sowie ihre allein von Frauen getragene Schwesterstruktur YGJ die umkämpfte Stadt nach monatelangen militärischen Auseinandersetzungen vom IS befreien konnten, gilt Kobane als Symbol des kurdischen Widerstands und des Versagens westlicher Militärmächte. Neben dem Kampf gegen den IS zog Rojava aufgrund seiner staatenlosen Selbstorganisierung das Interesse und die Solidarität linker Aktivist_innen und Denker_innen auf sich und veranlasste viele europäische Aktivist_innen, die Region zu besuchen – so auch Zerocalcare.

Willkommen in Kurdistan.

Das Buch «Kobane Calling» ist Ergebnis dieser Reise. Darin erzählt der Zeichner nicht nur seine Sicht auf die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava, er beschreibt auch die von Hürden und Schikanen geprägte Fahrt in den Norden Syriens. Vorbei an korrupten türkischen Grenzbeamten und auf halsbrecherischen Busfahrten schafft der bunt zusammengewürfelte Haufen von Aktivist_innen den Weg in die türkische Grenzstadt nahe Kobane. In einem weiteren Anlauf besuchen sie die Trainingslager der kurdischen PKK in den Kandil-Bergen an der irakisch-iranischen Grenze. Und zuletzt, nach einer Reihe weiterer Beschwerlichkeiten, erreichen die Italiener_innen schließlich Rojava. Die Grenze nach Rojava zu überschreiten erinnert Zerocalcare an Stargate: «Du kommst rein und hast den Kopf voll mit deinem ganzen Schliss. Dann siehst du auf und bist in einer anderen Dimension. Das heißt, du bist in Kurdistan. Wände, von denen die Farbe abblättert, Fotos der Gefallenen. Leben und Tod über die ganze Wand. Denn heute in Kurdistan zu sein, heißt nichts anderes, als im Krieg zu sein.»

Was soll ich hier?

Am Weg dorthin begegnet die Solidaritätsdelegation einer Vielzahl beeindruckender Persönlichkeiten. Da ist etwa Nasrin, eine junge Kurdin, die als Kommandantin die Frauenverteidigungseinheiten YPJ im Kampf gegen den «Islamischen Staat» anführt, oder Necim, ein türkischen Oppositioneller, der nach Jahren der Inhaftierung und Folter durch die türkische Polizei in den Irak geflohen war. Und so zeichnet Zerocalcare ein überaus persönliches und damit sehr authentisches Bild der Menschen, die seine Reise prägten.

Abgesehen von der sehr unterhaltsamen Nacherzählung steckt «Kobane Calling» aber auch voller Reflexionen. Das Buch beschreibt ganz unverblümt die eurozentrischen Vorstellungen und Vorurteile des Autors, die österreichischen Linken mit Sicherheit auch nicht fremd sind, und konfrontiert sie mit der vorgefundenen Realität. In sympathisch-naiver Weise stolpert der Comiczeichner, der selbst Hauptfigur der Graphic Novel ist, durch diese zentrale Auseinandersetzung der jüngsten Geschichte und fragt sich dabei stets: «Warum bin ich eigentlich nach Rojava gefahren? Was soll ich hier?»

Damit ist die hochtrabende Ankündigung am Klappentext gar nicht so weit entfernt vom tatsächlichen Inhalt des schön aufbereiteten Buchbandes: «‹Kobane Calling› ist nicht nur eine große Reportage, sondern zugleich ein Appell an die Herzen und ein Aufruf zur Unterstützung.»

 

Zerocalcare: Kobane Calling

Avant Verlag 2017,

261 Seiten, 24,95 Euro