Erika Freeman. Mit zwölf Jahren floh sie allein nach New York, der Vater war im KZ Theresienstadt, die Mutter als U-Boot im Wiener Philipphof. Derzeit lebt und arbeitet die 93-jährige Psychoanalytikerin in Wien. Wir haben sie zum Gespräch über die Couch, das Selbst und den Schatz echter Liebe getroffen.
Interview: Kerstin Kellermann
Foto: Lisbeth Kovačič
Wie würden Sie jemandem beschreiben, was man in der Psychoanalyse macht?
Eine Person redet, die andere hört hoffentlich aufmerksam zu. Man soll sich die Seele reinreden, wenn man kann. Das ist sehr schwer, weil die meisten Leute, die eine schöne Seele haben, denken, dass sie nichts wert seien. Dabei sind diese Leute viel mehr wert als solche mit einer schlechten Seele, wie unser «Trampf», der meint, er sei der Größte und der Beste. Es gibt ein schottisches Wort für ihn, hundert Jahre alt: cock wombler. Trumps Mutter kommt aus Schottland. Seine Mutter sagte einmal zur New York Times, der Fred, also der Vater, mag den Donald nicht. Das ist so traurig. Ich habe Trumps erste Frau gekannt, sie kommt aus der Tschechoslowakei. Sie sagte zu mir, Amerika sei ein herrliches Land, wenn man viel arbeitet, kann jeder etwas aus sich selbst machen. Ich antwortete, du hast Recht, ich habe aber nicht gesagt, dass es eine große Hilfe ist, mit einem Millionär verheiratet zu sein.
Machen Sie Psychoanalyse so klassisch mit Sofa?
Man sitzt auf der Couch. Ich sitze hinter der Person. Wenn die Person dich nicht sieht, dann redet sie in den Himmel hinein und sagt viel mehr, als wenn sie sich überlegt, was die Zuhörerin über sie denkt. Leicht ist es sowieso nicht. Der Kopf wird leer. Man muss vorsichtig sein, man darf nicht zu viel fragen, keine Vorurteile haben. Jeder Mensch ist ja, was er ist, und jeder Mensch ist eine Entdeckung. Eine Neuentdeckung für mich. Ein Schmerz scheint dem anderen ähnlich zu sein, aber nur das Wehtun ist dasselbe. Von wem das Wehtun kommt und wie das kommt, ist immer anders. Aber meistens doch von der Familie. Wenn man ein Masel hat, eine Familie zu haben, dann ist das auch kein Masel!
Ich mache seit 1964 Analyse. Meine erste Patientin gab mir ein Kollege von der Columbia Universität, er meinte, du bist die einzige von meinen Kollegen, die ihr ihre Religion nicht wegnehmen wird. Diese Frau war sehr katholisch und arbeitete für einen Pfarrer. Es gibt Menschen, die brauchen eine Religion. Sie war eine nicht mehr so junge Frau, sie hat so wenig von sich gedacht, dass sie nur ein kleines Papiersackerl getragen hat, nicht einmal eine Tasche. Sie war mein großer Erfolg.
Hat sie eine Handtasche gekauft?
Nicht nur das. Sie fing an zu lernen. Sie arbeitete dann in der Kirche mit handicapped Kindern. Ich sagte ihr, wenn du glaubst, du bist nichts wert, und jetzt bist du es sogar wert, den Jesu Christi zu heiraten, das ist doch viel. Wir Juden würden Jesu Christi nicht heiraten, denn er ist unser Bruder gewesen.
Stimmt es, dass die Personen in der Analyse lernen sollen, ihr echtes und wahres Selbst zu entdecken?
Man kennt das Selbst nicht, denn das, was du über dich zu denken gelernt hast, hat damit zu tun, wie man dich behandelt. Selbstbewusstsein kommt viel von deiner Behandlung. Freud meinte, das hat mit Sex angefangen, aber wir leben doch in einer Gesellschaft. Wenn du dich geliebt gefühlt hast, als du klein warst, ist das der größte Schatz, und der wächst immer mit dir. Wenn nicht, ist es sehr schwer. Wenn man eine Großmutter hat, dann fühlt man sich immer geliebt. Das ist für mich die Wurzel der Liebe.
Meine Mutter Rachel war die erste Hebräischlehrerin in Europa, sie war sehr beliebt bei den Kindern. Hebräisch lernen war ihr nicht erlaubt, weil sie ein Mädchen war – zumindest in Lemberg um 1910 circa, das war damals noch Österreich. Sie studierte trotzdem zuhause. Meine Omama machte immer den Koffer zu, damit der Opa nicht sieht, dass sie studiert. Am Schluss der Ausbildung gab es ein Schauspiel, Josef und seine Brüder. Damals hat man einen armen Talmudschüler zuhause gehabt, wenn man es sich leisten konnte. Nach dem Schauspiel ging mein Großvater zu seinem Rabbiner und sagte, diesen Josef will ich in meinem Haus. Sagt der Rabbi, dein Josef ist deine Tochter Rachel. Viele Jahre später schrieb Isaac Singer die Erzählung Yentl, er hatte von meiner Mutter gehört. Ich sollte wirklich Barbara Streisand, die in dem Film die Hauptperson spielte, einmal erzählen, dass das Stück von meiner Mutter handelt.
Die Traumatherapie behauptet, dass die Psychoanalyse bei Extremtraumata nicht hilft. Was ist Ihre Erfahrung?
Alle Hilfe hilft. Man darf nur nicht darauf bestehen, dass deine Ideen die einzigen richtigen sind. Was dir hilft, hilft dir. Als Psychoanalytikerin darf man nicht jemanden etwas über den Kopf stülpen, weil man glaubt, dass man Recht hat. Das ist den Menschen, die Hilfe brauchen, sowieso immer passiert – die haben immer jemanden gehabt, der Recht hat. Viele glauben, sie seien selber nichts wert, und jeder andere hat Recht. Das ist aber nicht wahr! Jeder hat ein bissl Recht, und jeder hat wahrscheinlich auch ein bissl Schuld. Es gibt keine unschuldigen Menschen. Einer, der glaubt, unschuldig zu sein, ist entweder ein Engel oder er hat eine Illusion.
Haben Sie auch mit Holocaustüberlebenden und Flüchtlingen gearbeitet?
An der Universität hatte ich eine Schülerin, die als Kind in Theresienstadt war. Ich glaube, sie war eine von Mengeles Botschafterinnen. Fürchterlich. Sie war ein herrlicher Kerl. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker, sagt man. Aber man kann hoffentlich auch stärker werden ohne Lebensgefahr! Wenn du eine starke Seele hast und ein großes Herz, bist du stark ohne Muskeln. Man muss an sich glauben.
Sie sind mit zwölf Jahren alleine über London nach New York geflüchtet. Hatten Sie das Gefühl, sich selbst helfen zu können?
Ich wollte nur ein tapferes Mädchen sein. Dass meine Mutti sich nicht schämt (lacht). Sie hat mir aber niemals einen Auftrag gegeben. Ich habe mit 15 Jahren versucht, den Menschen zu erzählen, was in Österreich passiert, aber man hat mir nicht geglaubt. Man schickte mich zum Psychiater, und der meinte, was für Geschichten erzählst du, bist du verrückt? Hör auf. Ich sagte, das ist die Wahrheit. Du darfst das nicht mehr, sagten sie. Dann habe ich zu reden aufgehört. Zwei Monate später traf ich meinen «toten» Vater, der aus Theresienstadt entkommen war. Das Leben ist verrückt. Alles was unmöglich scheint, ist mir passiert. Darum glaube ich an Wunder.
Man muss Geduld mit dem Herrgott haben! Er hat ja Geduld mit uns. Gott flüchtet nicht vor uns, niemals. Nur Menschen laufen weg. Wenn jemand wegläuft, weißt du, das ist nicht der Herrgott! Bist ein Mensch, wirst wahrscheinlich weglaufen. Bist ein Mann, wirst sicher weglaufen, leider. Wir Frauen laufen nicht weg, wir bleiben für die Kinder, wir bleiben für die Welt.
Konnte die Zwölfjährige ihr wahres Selbst leben, oder musste sie nur brav sein?
Mein Lebenswerk ist überhaupt noch nicht fertig, und ich weiß nicht einmal, was es ist. Meine Patienten behandle ich noch immer, aber ich glaube, ich habe noch etwas zu tun und weiß nicht, was es ist. Meine Tante zum Beispiel half illegalen Juden. Es gibt viel zu tun auf der Welt. Gewisse Dinge musst du tun, weil sie notwendig sind, auch wenn jeder sagt, es geht nicht. Wenn jemand anderer dafür berühmt wird, adraba – gehen wir weiter, wie die Israelis dieses arabische Wort verwenden. Ich wollte eben ein tapferes Kind sein, das die Welt rettet.
An Yom Kippur, am Shabbat war mein New Yorker Onkel nicht in der Synagoge, sondern ging spazieren. Läuft mein Vater aus einem Hotel am Broadway heraus. Sagt mein Onkel: «Joschi, was tust du da? Du bist doch tot!» Dieser: «Nein, das Kind ist tot!» Darauf wieder der Onkel: «Nein, das Kind ist nicht tot, das ist hier.» Mein Vater war nur einen Tag in New York, am Weg nach Washington. Er hatte eine Erfindung zu Benzin gemacht, damit es nicht explodiert. Er suchte mich nicht einmal.
Ein Wunder geschieht die ganze Zeit, man kann sich darauf verlassen, aber nur wenn du keinen Termin brauchst. Es gibt Sachen, die sind wunderlich oder wunderbar, die bemerkt man nicht einmal im Alltag.
Wunder geschehen – man weiß nur nicht wann!
Erika Freeman spricht mit Markus Kupferblum
über Wunder und Liebe
7. Dezember, 19 Uhr
Wiener Vorlesungen, MuTh, 2., Am Augartenspitz 1