Ein Märchen
Es war einmal ein Dorf in einem Königreich, in dem ein alter Mann namens Erkan lebte. Er war kein reicher Mann, auf seinem Hof hatte er lediglich ein paar Hühner und einen stattlichen Hahn.
Grafik: Karl Berger
Eines Morgens grub der Hahn im Garten umher und fand dabei eine Goldmünze. Da schrie er laut: «Ki-ker-ri-kii! Komm raus, alter Herr, und sieh, was ich gefunden habe.»
Erkan kam herausgelaufen und sah den Hahn mit einer Goldmünze im Schnabel. Der Hahn ließ die Münze in die Hand Erkans fallen. Dieser dankte ihm darauf und lobte ihn.
Der Hahn grub von nun an jedem Tag eine Münze aus und gab sie Erkan. Der war kein geiziger Mann und begann den armen Bewohnern seines Dorfes zu helfen, indem er großzügig Almosen an die Bedürftigen verteilte. Die Nachbarn begannen sich zu wundern und fragten sich: «Woher hat Erkan das viele Geld, dass er es so großzügig verteilen kann?»
Sie begannen nun Erkan zu beobachten und bemerkten, wie er jeden Morgen eine Goldmünze von seinem Hahn bekam. Da kam Neid in ihnen auf, und sie begannen Gerüchte über den zauberhaften Gockelhahn zu streuen.
Schnell erreichten die Gerüchte auch den König, und er setzte sich in den Kopf, diesen Hahn besitzen zu wollen, um noch reicher zu werden. Er rief den Hauptmann seiner Garde zu sich und befahl ihm: «Ich will diesen Hahn besitzen, doch zuerst musst du herausfinden, ob dieser tatsächlich Gold bringt.»
Du musst diesen Hahn finden
«Zu Befehl», erwiderte der Hauptmann und befahl sogleich seinen besten Reiter, Arnold, zu sich, um ihm folgende Aufgabe zu geben: «Du musst das ganze Reich bereisen und diesen Hahn finden. Bringe in Erfahrung, ob er wirklich Gold ausgräbt!»
«Zu Befehl!», erwiderte der Reiter und machte sich auf, sein Pferd zu satteln. Doch bevor er sich auf den Weg machte, zog er sich ein traditionelles, bäuerliches Hemd an und ritt los.
Er suchte jedes Dorf auf und fragte nach einem alten Mann, der einen Hahn besitze, der ihm Gold brachte. Doch in jedem Dorf bekam er die gleiche Antwort: Niemand kannte so einen Mann.
Schließlich gelangte er zum letzten Dorf und dort bekam er die Antwort, dass so ein Mann bei ihnen im Dorf lebte und die Leute zeigten ihm sein Haus.
Als sich Arnold dem Haus Erkans näherte, war es noch früh am Morgen. Als er dort ankam, sah er, wie der Hahn im Garten umherpickte und plötzlich einen lauten Schrei von sich gab. Da kam auch Erkan aus dem Haus gelaufen und nahm wieder eine Goldmünze entgegen.
Nun hatte sich Arnold dessen versichert, dass der Hahn Gold beschaffen konnte, und konnte ins Schloss zurückkehren. Dort berichtete er seinem Hauptmann genau, was er gesehen hatte: «Ich habe einen Mann namens Erkan gefunden, und ich habe selbst beobachtet, wie sein Hahn ihm eine Goldmünze gab.» Daraufhin begab sich der Hauptmann schnell zu seinem König und erzählte ihm alles. «Die Gerüchte sind wahr, mein König», sagte er. «Mein bester Mann ritt selbst in dieses entlegene Dorf und sah mit eigenen Augen, wie ein Hahn einem alten Mann Münzen aus der Erde holte.»
Da freute sich der König sehr und befahl, Arnold, den Reiter, für seine Dienste zu belohnen und einen Reitertrupp in das besagte Dorf zu schicken, um ihm diesen Hahn zu holen.
Nach einigen Tagen kam der Reitertrupp bei Erkan an und forderte von ihm Folgendes: «Unser König hat uns befohlen, deinen Hahn mitzunehmen und ihn in den Palast zu bringen. Wenn du dich weigerst, den Hahn herzugeben, dann müssen wir dich verhaften und mitnehmen.»
Da erschrak Erkan sehr und gab seinen Hahn freiwillig her. Der Reitertrupp hatte seine Aufgabe erfüllt und ritt zurück.
Ich werde noch reicher
Als der Hahn beim König ankam, rief dieser vor Entzücken: «Nun wird der Hahn für mich Gold aus meinem Palastgarten ausgraben, und ich werde noch reicher werden.»
Am nächsten Morgen kam der König früh in den Garten hinaus, gefolgt von seinen Höflingen, und befahl dem Hahn: «Du hast für deinen alten Herren Goldmünzen aus dem Garten ausgegraben und nun will ich, dass du das hier, für mich, machst. Finde Gold!»
Der Hahn pickte den ganzen Tag im königlichen Garten umher, fand aber keine einzige Münze. Auch am zweiten Tag arbeitete er sich durch den Garten, aber nichts war zu finden. Da wurde der König zornig und schrie den Hahn an: «Du machst das absichtlich, und deshalb wirst du geschlachtet und mir zum Abendessen vorgesetzt.»
Darauf entgegnete der Hahn: «In deiner Erde lässt sich kein Gold finden.»
Da wunderte sich der König und fragte: «Warum ist das so? Das ist schließlich ein königlicher Garten.»
«Mein alter Herr, Erkan, ist ein großzügiger und fleißiger Mann. Täglich kümmert er sich um seinen Garten, gräbt ihn um und düngt ihn, sät Gras aus und stutzt es wieder. Aus Dankbarkeit trägt die Erde bei ihm solch reiche Früchte. Mein alter Herr hat nie nach Reichtum gestrebt, und deshalb teilt er alles, was er hat, mit den armen Bewohnern des Dorfes. Du jedoch denkst nur an Gold und kümmerst dich nicht um die Menschen in deinem Königreich, und deshalb gibt es hier auch kein Gold.»
Daraufhin wurde der König noch wütender und befahl seinem Koch, ihm den Hahn zum Abendessen vorzusetzen. Doch da mischte sich ein weiser Höfling des Königs ein: «Schlachten Sie nicht den Hahn! Ihre Untertanen werden davon erfahren, und ihr Ansehen wird weiter Schaden nehmen.»
Der König besann sich und befahl, den Hahn zurück zu seinem alten Herren zu bringen.
Als der Reitertrupp erneut bei Erkan eintraf und ihm den Hahn überreichte, freute sich der Alte sehr, und auch der Hahn war glücklich. Sie kehrten wieder zu ihrem vorherigen Alltag zurück: Jeden Tag grub der Hahn für seinen Herren eine Goldmünze aus. So lebten sie ohne jegliche Entbehrungen und halfen den Bedürftigen.
Aus: Ein Leben mit anderen Maßstäben. Neue Märchen für Kinder und Erwachsene.
Aus dem Russischen übertragen von Terlan Djavadova. 100 Seiten, 10 Euro
Razmik A. Gevondyan stammt aus Armenien. Seine Märchen hat er ursprünglich für sein Enkelkind erfunden, später begann er sie aufzuschreiben. «Ein Leben mit anderen Maßstäben» ist bereits sein vierter Märchenband. Seit 2005 lebt Razmik in Wien. Er verkauft den Augustin seit vielen Jahren vor dem Diskonter in der Kaiserstraße 92 im 7. Bezirk, wo er auch seine literarischen Werke anbietet.