Eine aktive Entscheidung zum Widerstandtun & lassen

Toni Negri, italienischer Aktivist und Co-Autor von «Empire», wird 80

In seinen frühen Zwanzigern wurde Toni Negri Professor für Staatstheorie an der Universität von Padua, 1979 kam er als angeblicher «intellektueller Drahtzieher» der Entführung von Aldo Moro ins Gefängnis. Dort studierte er Spinoza, gelangte mit Hilfe eines Abgeordnetenmandats aus dem Gefängnis ins französische Exil, wo er «papierloser» Professor in Paris wurde. Bei seiner Rückkehr vierzehn Jahre später wurde Negri erneut festgenommen. Negri zählt zu den wichtigsten und meistgelesenen europäischen Theoretiker_innen der linken Bewegungen – Theorie, findet er, muss dem Klassenkampf dienen. Wir trafen ihn kurz vor seinem 80. Geburtstag in seiner Wohnung in einer der vielen engen kleinen Gassen Venedigs.

Welche Entwicklungen waren für die Entwicklung Ihrer politischen Theorie und Praxis besonders wichtig?

Um meine persönliche Geschichte zu erzählen, muss ich in den 1950er Jahren ansetzen. Im Jahr 1956, dem Jahr des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, war ich an der Universität Padua beschäftigt. Zu dem Zeitpunkt also, in dem die Verbrechen Stalins offenbar wurden, begannen wir, uns von der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) zu distanzieren. Die KPI war immerhin eine stalinistisch geprägte Partei, auch wenn sie etwas «gemäßigter» agierte. Die Distanz, die wir zur kommunistischen Partei einnahmen, bewog uns allerdings nicht dazu, uns nach rechts abzuwenden; wir wandten uns vielmehr nach links.

Wir nahmen Kontakt mit den Arbeiter_innen auf. Wir begannen im venezianischen Porto Maghera [Industriehafen, Anm.] zu arbeiten, wo zu diesem Zeitpunkt rund 60.000 Arbeiter_innen in der chemischen Industrie beschäftigt waren. Wir wollten eine autonome Arbeiter_innenbewegung aufbauen, die in der Lage wäre, unabhängig von der KPI zu agieren. Diese Bewegung erlangte in der Region von Porto Maghera tatsächlich Hegemonie. Die Erfahrungen der Arbeiter_innenklasse dieser Zeit haben mich sehr stark geprägt.

Sie haben vielfach beschrieben, dass sich in den 1970er Jahren eine große Veränderung anbahnte: Revolutionäres Subjekt war nicht mehr in erster Linie der männliche Industriearbeiter. Entsprechend änderten sich auch die Aktionsformen. Wie kam es dazu?

Zu Beginn der 1970er Jahre übersiedelte ich nach Mailand und arbeitete dort vor allem bei den großen Unternehmen wie Alfa Romeo und Pirelli. An diesen Orten konnten wir feststellen, wie die Fabrik als Zentrum der Bewegung und als wichtigster Ort der revolutionären Aktivität immer mehr in die Krise geriet.

Ich begann mit anderen Genoss_innen, die ebenfalls in der Bewegung aktiv waren, das Konzept der «gesellschaftlichen Arbeiter_innen» zu entwickeln. Das heißt, wir analysierten die Verschiebung der Hegemonie des «Massenarbeiters» in der Fabrik hin zu den «gesellschaftlichen Arbeiter_innen» in den großen Städten; wir arbeiteten also an einem erweiterten Begriff des Proletariats, der auch Studierende, Frauen und andere gesellschaftliche Gruppen miteinbezog.

Nach 1973 fand diese Verschiebung auch auf praktisch-organisatorischer Ebene einen starken Ausdruck: In den verschiedenen Stadtteilen wurden soziale Zentren eröffnet. Auch in den Provinzstädten und Dörfern entstanden solche Zentren. Dies ermöglichte uns, ein breites Netzwerk aufzubauen und Aktionen durchzuführen, die sich nicht mehr ausschließlich auf das Kampfmittel des Streiks beschränkten.

Wir organisierten regelmäßig Demonstrationen, begannen Häuser zu besetzen und «Selbstreduzierungen» in den großen Geschäften durchzuführen – das heißt, eigenmächtig den Preis für die Waren nach unten zu setzen und mit einer entsprechend kritischen Menge an Aktiven eine «Expropriation», eine Enteignung vorzunehmen. Das war eine ganz wunderbare Zeit in Milano, die Bewegung war sehr stark. Es lohnt sich, Dokumentationen darüber anzusehen und die Theaterstücke, die der Schriftsteller Dario Fo über diese Zeit geschrieben hat, zu lesen [nicht über Dario Fo, aber über seine ebenso aktive Co-Autorin Franca Rame ist in dieser Ausgabe auf Seite x nachzulesen, Anm.].

Sie waren in der «Potere Operaio» organisiert – direkt übersetzt bedeutet das «Arbeitermacht». Welche Organisationsstärke hatte die «Potere Operaio» in den 1970er Jahren und wer waren die Mitglieder?

«Potere Operaio» war eine Organisation, die zu dieser Zeit circa fünftausend aktive Mitglieder hatte. Also Leute, die wirklich Tag und Nacht arbeiteten. Aber diese Zahl sagt noch relativ wenig aus. Das Entscheidende war die Existenz der Basiskomitees; es handelte sich um eine wirklich sehr pluralistische Bewegung, mit Demonstrationen, an denen bis zu zweihunderttausend Menschen teilnahmen. Dies waren Bewegungen, die die Lebensformen komplett revolutioniert haben. Es ging weder ausschließlich um die Frage des Lohns, noch ausschließlich um die soziale Frage. Feministische Ansätze spielten in dieser Bewegung eine große Rolle. Der Feminismus wurde buchstäblich aus der Bewegung geboren.

Zu jener Zeit war Italien ein Land, in dem die Immigration eine sehr geringe Rolle spielte. Italien war ein Land der Auswanderung. Die Immigration hier im Norden, beispielsweise in der Region von Venedig, bestand gewissermaßen aus den Zuwanderern aus dem italienischen Süden.

Im Laufe von fünfzehn Jahren, von 1955 bis zum Ende der 1960er Jahre wandelte sich die Region von einer bäuerlich geprägten hin zu einer industriellen; große Fabrikanlagen waren entstanden. All das transformierte die Lebensweise, die Gefühle, die Affekte in sehr hohem Maße. Auch die Sprache wurde stark verändert. Hier wurde vor der Entwicklung der Industrie nur Dialekt gesprochen.

Die Leute betrachteten die individuelle Auseinandersetzung mit ihrem Chef als sehr fundamental. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Region hier lange Zeit von kleinen Unternehmen geprägt war. Da war es nicht so, dass die Gewerkschaft ankam und verkündete, dass man nun in Streik treten würde. Das funktionierte nicht so. Allem voran gab es ein persönliches, individuelles Engagement – man könnte sagen, dass es sich um eine Entscheidung handelte, widerständig zu sein. Im Kampf zu stehen war nicht eine Gewohnheit oder ein Habitus, es handelte sich um eine aktiv getroffene Entscheidung, die weitere Entscheidungen über das eigene Leben nach sich zog.

Das klingt danach, dass die Linke damals insgesamt sehr stark war.

Man muss sich in Erinnerung rufen, dass zu jener Zeit die Kommunistische Partei Italiens mehr als dreißig Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die wichtigsten kulturellen Errungenschaften Italiens aus dem antifaschistischen Widerstand entstanden und somit eng mit der Linken verbunden waren. Denken Sie nur an Persönlichkeiten wie den Schriftsteller Elio Vittorini oder den Filmemacher Pier Paolo Pasolini oder an Emilio Vedova, einen Maler, der in Venedig lebte und den wir bei Demonstrationen stets in die erste Reihe schickten, da er groß und kräftig war und die Schläge der Polizei einstecken konnte. Denn hier in Venedig, in den engen Gassen, ist es nicht einfach, eine Konfrontation mit der Polizei einzugehen!

Es erschien also tatsächlich realistisch, das staatliche Gewaltmonopol in Frage zu stellen?

Ja, so war es. Wir hatten im Sinn, eine permanente Revolution zu führen. Das Kräfteverhältnis erlaubte uns, dass wir, ausgehend von den Fabriken, in die Städte hinein wirken konnten; es handelte sich um eine sehr konsequente, kontinuierliche Bewegung. In unserer Theorie betrachteten wir das Kapital nicht als einen übermächtigen Leviathan.

Gleichzeitig haben Sie Gruppen wie die «Roten Brigaden», die sich für den bewaffneten Kampf entschieden hatten, scharf kritisiert.

Wir vertraten die Auffassung, dass die «Roten Brigaden» für die Bewegung eine Gefahr darstellen würden, da diese davon ausgingen, dass es etwas gab, was als Herzstück oder «Kern» des Staates betrachtet werden kann. Für uns war das nicht so. Der Staat hatte keine Zentrale und kein Herz, der Staat war ein Antagonismus. Er befand sich unserer Ansicht nach im Feld einer Auseinandersetzung, einer Konfrontation. Und wir sahen unsere Aufgabe darin, diese Auseinandersetzung zum Leben zu erwecken, um vorwärts zu kommen. Unser Credo war, dass es keinen Staat ohne Widerstand gibt, so wie es kein Kapital ohne Arbeiter_innenklasse gibt.

Was nach der großen Bewegung der 1960er und 70er Jahre folgte, war eine ungeheure Welle der staatlichen Repression. Wie analysieren Sie diese Repression retrospektiv?

Unsere große Niederlage begann mit der Entführung von Aldo Moro [italienischer Christdemokrat, der den «Historischen Kompromiss» befürwortete – einen Solidaritätspakt zwischen der KPI und der christdemokratischen Democrazia Cristiana, vornehmlich zur Lösung der Wirtschaftskrise, Anm]. Als die «Roten Brigaden» ihn 1978 entführten, kam es zu einem Zusammenschluss aller Kräfte der Bourgeoisie mit den Kräften der institutionellen Linken, also auch der kommunistischen Partei. Dieser Zusammenschluss, der gewissermaßen von den faschistischen Kräften bis hin zur KPI reichte, machte die darauf folgende Repressionswelle erst möglich.

Am 7. April 1979 wurde ich gemeinsam mit anderen Genoss_innen inhaftiert. Dies war ein symbolträchtiger Tag – in den folgenden zehn Jahren sollten dann um die sechzigtausend Aktivistinnen und Aktivisten in Haft gehen. Die Dimensionen waren ungeheuerlich. Die Zahlen derjenigen, die über Jahre hinweg inhaftiert waren, überstieg die Anzahl unserer formellen Mitglieder also bei weitem.

Ihnen selbst wurde ja vorgeworfen, bei der Entführung und Ermordung von Aldo Moro der intellektuelle Drahtzieher gewesen zu sein – und das, obwohl Sie ein scharfer Kritiker der «Roten Brigaden» waren. Wie kam es nach vier Jahren zu Ihrer Freilassung und zur Flucht nach Frankreich?

Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis war ich so etwas wie ein Symbol geworden. Ich war für die Radikale Partei ins Parlament gewählt worden, mit einer Vielzahl von Stimmen aus Mailand, Rom und Neapel [um aufgrund der Immunität, die Abgeordnete genießen, aus der Haft entlassen zu werden, Anm.]. Doch bald darauf wurde mir die Immunität wieder entzogen – mit einer Abstimmungsdifferenz der Abgeordnetenkammer von nur drei Stimmen: 297 gegen 300. Ich sollte also zurück ins Gefängnis gehen.

Zu diesem Zeitpunkt beschloss ich, nach Frankreich zu fliehen, wo ich schon viele Freund_innen hatte. Während dieser Zeit gab es in Frankreich eine Menge politischer Flüchtlinge aus Italien – wir waren rund fünfzehntausend allein in Paris. Ich lebte in Frankreich praktisch als «Sans Papiers», als irregulärer Migrant. Ich blieb bis zum Jahr 1997, also vierzehn Jahre. Zunächst arbeitete ich privat als Soziologe und später, dank der wundersamen französischen Bürokratie, als «papierloser» Universitätsprofessor an der Universität Vincennes, im achten Arrondissement von Paris.

Sie gelten als einer der Wichtigsten unter den Theoretiker_innen der sozialen Revolte. Dabei haben Sie immer betont, dass sich Theorieproduktion aus der Praxis der sozialen Bewegungen entwickelt und nicht umgekehrt.

Unser letztes Buch «Demokratie – Wofür wir kämpfen» [gemeinsam mit Michael Hardt, 2013, Campus Verlag] war wesentlich von den Occupy-Bewegungen in Spanien, den USA und anderen Ländern beeinflusst. Ich hielt mich im Mai 2011 in Sevilla auf, um Kurse zu geben, Michael Hardt war in New York nahe dran an «Occupy Wall Street». Wir verfolgten die Entwicklung dieser Bewegungen mit großer Freude und machten uns daran, dieses kleine Büchlein zu schreiben – ein Teil davon ist ja direkt aus der Unabhängigkeitsdeklaration Thomas Jeffersons übernommen, die wir auf die aktuellen politischen Fragestellungen übertragen haben. Dabei gehen wir von der Phänomenologie der Unterdrückung aus, die heutzutage stattfindet.

Bei meinen theoretischen Arbeiten im Verlauf meines gesamten Lebens war es mir stets sehr wichtig, Theorie dazu nutzbar zu machen, Klassenkämpfe zu unterstützen und vorwärts zu bringen. Theorie muss also gewissermaßen in den Klassenkämpfen, in den Kämpfen der Armen gegen die Reichen, entwickelt werden. Diesen Grundsatz habe ich niemals vergessen.

Interview: Alexander Behr, Nikolaus Halmer, Fotos: Lisa Bolyos

 

Radiofeature: Revolutionärer Optimismus. Zum 80. Geburtstag des italienischen Soziologen, Philosophen und Politaktivisten Antonio Negri. Gestaltung: Nikolaus Halmer

Ö1, Donnerstag, 1. August 2013, 19:05 Uhr

Literatur von Toni Negri und Michael Hardt:

Empire: Die neue Weltordnung, Campus 2002, 461 Seiten, Euro 20,50

Multitude: Krieg und Demokratie im Empire, Campus 2004, vergriffen

Common Wealth: Das Ende des Eigentums, Campus 2010, 437 Seiten, Euro 35,90

Demokratie! Wofür wir kämpfen, Campus 2013, 127 Seiten, Euro 13,30