Eine Art Spiegelbildvorstadt

Das Mittelmeer: Ort von Begegnungen, durchzogen von Schifffahrtsrouten, Schauplatz von Vergnügungen und tödlichen Dramen. Jola Wieczorek schuf mit der Filmdoku Stories from the Sea ein vielschichtiges Bild von Menschen auf See.

INTERVIEW: JENNY LEGENSTEIN
FOTO: JANA MADZIGON

Was war der Ausgangspunkt, den Film Stories from the Sea zu machen?
Jola Wieczorek: Das war 2014/15 die Situation der Flüchtlinge auf dem Meer. Ich war zutiefst erschrocken. In diesem Meer habe ich schwimmen gelernt, Menschen machen an der Adria Urlaub und ein paar 100 Kilometer weiter südlich ertrinken Menschen. Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass es das einzige Meer ist, das zwischen drei Kontinenten liegt, und somit drei Weltreligionen berührt. Dass sehr viele geschichtliche Eckpunkte an den Ufern passiert sind und dass sich die Geschichten auf dem Meer immer wiederholen. Dass aber das Meer diese Geschichten nicht einfängt. Eigentlich tragen ja die Menschen, die auf dem Meer reisen, die Geschichten weiter, und da entstand die Idee, ein Porträt des ­Meeres zu machen aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Bei einem österreichischen Dokumentarfilm scheint das Mittelmeer nicht das naheliegendste Thema zu sein.
Damals habe ich in Barcelona gelebt. Ich habe immer schon eine starke Sehnsucht nach dem Meer verspürt, schon als Kind. Oder eigentlich nach dem Wasser, egal ob das ein Fluss oder ein See ist. Ich habe überlegt, warum ziehen mich Wasser und Meer so an. Für die Recherchen war ich Wochen auf verschiedenen Schiffen unterwegs, oft als einzige Frau. Ich habe das Gefühl, wenn man lange auf dem Meer unterwegs ist, man nur diesen Horizont sieht, einer bestimmten Routine verfällt und man eine Reduktion des Raumes empfindet, kommt man sich selber näher. Man fühlt deutlich, wo man steht in jenem Moment. Als wäre das Meer eine Art Spiegelbild für einen, für die Seele des Menschen. Da war auch die Frage, was passiert, wenn nicht ich auf dieses Meer schaue, sondern Europa. Was wird es dann sehen in seinem Spiegelbild? Ich suchte eine Art Spiegelbild unserer Gesellschaft, unserer Strukturen und Hierarchien durch die unterschiedlichen Lebensweisen und Arten, uns durch das Meer zu begegnen.

Wie haben Sie die Schauplätze – die verschiedenen Schiffe – und die Protagonistinnen gefunden?
Ich musste sehr reduzieren, denn Geschichten gibt es ja unendlich viele auf dem Meer. Ich habe mir Vorgaben gesetzt. Also, dass die Protagonistinnen Menschen sind, die sich lange auf dem Meer aufhalten, nicht z. B. Fischer, die jeden Tag hinaus- und wieder zurückfahren, sondern jemand, der tage-, wochenlang auf dem Meer unterwegs ist. Wenn der Film ein Spiegel unserer Gesellschaft sein soll, dann wäre es schön, unterschied­liche Schichten der Gesellschaft zu porträ­tieren. Daraus ist dann entstanden: Ich möchte die Arbeiter:innen porträtieren – das war dann ein Frachtschiff, ein Containerschiff, die Freizeitgesellschaft auf einem Kreuzfahrtschiff –, und ich wollte die Fluchtproblematik thematisieren. Wobei die beiden Segelschiffe Plan B waren. Wir wollten auf ein Rettungsschiff. Das ging dann nicht, weil ­Salvini [Matteo Salvini, Innenminister Italiens 2018/19] die Häfen zugemacht hat. Wir waren in Sizilien wortwörtlich gestrandet und sind dann durch Zufall über Freunde zu diesem Projekt mit den zwei Segelschiffen gekommen. Ich bin sehr froh über diese Begegnung. Die drei Geschichten geben sich jetzt viel eher die Hand.
Das Casting war unglaublich schwierig. Vor allem Jessica. Nur 2 % der Seefahrer sind Fahrerinnen. Noch dazu musste es eine Schifffahrtsgesellschaft sein, die im Mittelmeer unterwegs ist und die einverstanden sein musste, dass wir mit unserer kleinen Crew auf dem Schiff filmen. Kurz vor dem Aufgeben hat sich ­Petra Heinrich von H. H. Shipping bei mir gemeldet: Wir haben eine Auszubildende, Jessica, auf einem Schiff im Mittelmeer und sie ist gerade im Hafen in Barcelona. Da bin ich aufs Fahrrad gestiegen und bin in den Hafen geradelt und habe sie kennengelernt. Wir haben recht schnell beschlossen, dass wir zusammenarbeiten wollen.
Bei der Suche nach einer Protagonistin auf einem Kreuzfahrtschiff habe ich ein weltweites Casting gestartet und ganz viele Interviews gemacht. Ich wollte aber, dass diese Dame eine besondere Verbindung zum Mittelmeer hat. Die habe ich bei all den Frauen vermisst. Über eine Freundin habe ich sie dann gefunden. Sie hatte von meiner Suche erfahren und meinte dann: Du musst meine Tante kennenlernen. Und das war dann Amparo.

Warum wurde der Film in Schwarz-Weiß gedreht?
Es ist vor allem eine konzeptuelle Entscheidung, die wir aus mehreren Gründen mit Serafin Spitzer, dem Kameramann, getroffen haben. Wir haben eine Möglichkeit gesucht, wie wir die drei Geschichten umarmen können, sodass man empfindet, dass sie parallel passieren, vor allem im gleichen Raum. Wir waren uns bewusst, dass die Architektur und die Lichtstimmung auf jedem Schiff anders sind und dass wir mit unserer reduzierten Crew dort auch nicht viel verändern können. Also beispielsweise Lichtsituationen setzen. Dann kam Serafin mit der Idee, alles in Schwarz-Weiß zu drehen. Ich war zuerst ganz erschrocken: Wir brauchen das Blau des Meeres. Aber ich habe überlegt, und eigentlich machte es immer mehr Sinn. Ich wollte auch die Archaik hervorholen mit dem Film. Weil, wie gesagt, die Geschichte eine Art Spirale ist, die immer wieder an ähnlichen Punkten ankommt. Und dass zwar die Geschichten im Heute stattgefunden haben, aber auch in ähnlicher Form vor 50 Jahren oder noch länger her, passiert sein könnten. Dass man irgendwie dieses Zeitlose mitnimmt. Ich bin sehr glücklich über die Entscheidung.
Durch diese Reduktion ist es leichter, sich zu konzentrieren auf das, was geschieht, was gesprochen wird, auf die Gesichter. Und es sind keine Urlaubsbilder.
Es lenkt nicht so viel ab. Man hat mehr Platz für die Menschen vor der Kamera. Es wäre sonst sehr schnell sehr kitschig und grell geworden, vor allem auf dem Kreuzfahrtschiff.
Das Kino, ein Film ist für mich ja auch eine Art Vorschlag. Die Zuschauer:innen sollen auch die Möglichkeit haben, die eigene Innenwelt einzubringen. Die Mischung von eigenen Erfahrungen und Denkweisen und dem, was man vorgeschlagen bekommt durch den Film, das ist die Magie des Kinos.

 

Mehr als übers Meer

Urlaubsziel, Handelsweg, Kulturraum, Brücke und Barriere – das Mittelmeer ist viel mehr als eine Abzweigung des Atlantik. In ­ihrem ersten langen Dokumentarfilm Stories from the Sea begleitet Jola Wieczorek mehrere Menschen, die sich auf Schiffen auf dem Mittelmeer aufhalten. ­Jessica absolviert eine Lehre auf einem Containerschiff als einziges weibliches Besatzungsmitglied. Amparo, Witwe aus Valencia, begibt sich erstmals seit dem Tod ihres Mannes wieder auf eine Kreuzfahrt. Zehn Tage verbringt eine gemischte Crew auf den Segelschiffen Tanimar und Viva – junge Leute, z. T. mit Fluchterfahrung, aus verschiedenen europäischen Ländern cruisen mit versierten Skipper:innen, arbeiten miteinander, tauschen Erfahrungen aus.
So entsteht ein Porträt, das über Individuen und einen geografischen, geschichtlichen Raum hinausgeht. Der Film erzählt von einzelnen Personen genauso wie von sozialen Schichten und unserer Gesellschaft. Und das in ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern, ohne darüber gesprochenen Kommentar. Der zurückhaltende, wunderbare Soundtrack der kanadischen Musikerin Julia Kent ist übrigens auch auf Vinyl und als Musik-Download erschienen.

Ab 20. Mai im Kino

Film + Gespräch mit Jola Wieczorek am 29. Mai, 20 Uhr im Admiral Kino
7., Burggasse 119

www.storiesfromtheseafilm.com
www.jolawieczorek.com