Eine brennende Zelletun & lassen

Schubhaft in Wien Hernals

Im Herbst haben sechs Männer in Schubhaft ihre Zelle in Brand gesetzt. Christof Mackinger hat ihren Gerichtsprozess beobachtet und mit einem von ihnen im Gefängnis gesprochen. Das Protokoll einer (vorerst) gescheiterten Flucht nach Europa. Illustration: Prozess.Report

22. März, Landesgericht I: Mit gebeugtem Rücken sitzt G. auf der Anklagebank. Im Gerichtssaal 203 ist es viel zu warm, dennoch trägt er eine blaue Winterjacke über seinem verwaschenen weißen T-Shirt. Arash G. ist blass im Gesicht, er ist sichtlich nervös.
«Geboren in Schiraz/Iran, 12 Jahre Grundschule, verlobt, zwei Vorstrafen wegen Schlepperei in Deutschland. Stimmt das?», fragt die Richterin forsch. Nach der Übersetzung auf Farsi nickt der junge Mann. «Jedoch, die Verurteilungen …» Davon habe er nichts gewusst. Bei seinem zweiten Deutschlandaufenthalt – der erste endete mit einer Abschiebung nach Rumänien – wurde G. lediglich angewiesen, das Land zu verlassen. Da kam er nach Österreich. An der Grenze wurde er gleich verhaftet. Seine Österreichreise endete in Schubhaft. G. soll nach Rumänien abgeschoben werden, wo er in der Europäischen Union erstmals registriert worden war.
Für den 31-Jährigen war an diesem Tag des Grenzübertritts nach Österreich, Anfang September 2018, kaum zu erahnen, dass der Tiefpunkt seiner bereits zwei Jahre andauernden Suche nach einem besseren Leben noch bevorstand. Vorerst saß er in Schubhaft.

In Abschiebehaft.

Abschiebehaft ist Inhaftierung ohne Delikt. «Bei der Schubhaft geht’s im Grunde um die Sicherstellung der Abschiebung», erklärt Ruxandra Staicu, Mitarbeiterin der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung. Hauptargument der Behörde sei es, ein Abtauchen vor den Behörden durch die Ausreisepflichtigen zu verhindern, wenn es einen rechtskräftigen, negativen Asylbescheid gibt. Nichtsdestoweniger ist es immer ein Abwägen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA), glaubt man Christoph Pölzl, Sprecher des Innenministeriums: «Ziel ist grundsätzlich eine Steigerung der Außerlandesbringungen.» Schubhaft sei kein Selbstzweck.
Das BFA kann die Schubhaft anordnen, wenn Menschen weder ihrer Ausreisepflicht nachkommen noch sich den Behörden gegenüber kooperativ verhalten. Auch eine fehlende Meldeadresse und der Mangel eines sozialen Netzes erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Schubhaftverhängung. Wo es möglich ist, ist offiziell anstatt der Schubhaft immer das sogenannte «gelindere Mittel» vorzuziehen, so etwa eine Meldepflicht bei der Polizei für den Betroffenen. Als Reaktion auf die Kritik an der Dauer der Schubhaft durch NGOs wurde in den letzten Jahren die Praxis etabliert, Menschen bis zu 72 Stunden vor ihrer zwangsweisen Abschiebung in der sogenannten polizeilichen Anhaltung festzusetzen.
Pölzl zufolge sind 2018 nicht nur die zwangsweisen Abschiebungen enorm gestiegen (4.661, ein Plus von 47 Prozent); massiv erhöht hat sich auch die Zahl der verordneten Schubhaft, auf exakt 5000 Inschubhaftnahmen im Laufe des Jahres.

Vor Gericht.

22. März, Landesgericht I: Heute stehen neben Arash G. aus dem Iran fünf Männer aus Afghanistan vor Gericht. Sie alle sollen am 14. September des Vorjahres gemeinsam ihre Zelle 106 in der Schubhaft im Polizeianhaltezentrum (PAZ) Hernalser Gürtel in Brand gesetzt haben.
Glaubt man der Staatsanwaltschaft, so wollten sie sich mittels eines «vorgetäuschten Suizidversuchs» ein Bleiberecht in Österreich erzwingen. Den Angeklagten ginge es keinesfalls darum, wirklich zu sterben, es gehe lediglich um die öffentliche Aufmerksamkeit, so der Ankläger.
Manche von ihnen hätten es tatsächlich ernst gemeint, sagen die Angeklagten hingegen. An die Zellentür hatten die sechs einen Abschiedsbrief geheftet, mit den Unterschriften aller, sodass niemandem die Schuld zugewiesen wird, wenn wer überlebt. «Ich will mich brennen, weil hier gibt nicht Menschlichkeit», hatte Arash G. neben seine Unterschrift auf den Zettel geschrieben. Darunter schrieb wer anderer: «Ich habe Abschiebungstermin nach Afghanistan. Deswegen will ich mich umbringen.»
Ob die sechs jungen Männer wirklich sterben wollten oder nicht; Tatsache ist, sie alle befanden sich in solch einer ausweglosen Situation, dass sie schwere Verletzungen oder sogar ihren Tod in Kauf genommen hatten. Alle sechs wurden mit Rauchgasvergiftung aus der brennenden Zelle geborgen. Einer von ihnen, Saifullah S., erlitt darüber hinaus starke Verbrennungen. Nach ihrer Rettung wurden sie unmittelbar in Untersuchungshaft überstellt.

In Untersuchungshaft.

20. März, Justizanstalt Wien-Josefstadt: Verunsichert blickt Arash G. durch die Plexiglasscheibe im Besucherraum. In seinem Gesicht sieht man die Anspannung und den Schlafmangel. Seine Schultern lässt er unter dem verwaschenen T-Shirt hängen. Durch den Telefonhörer, der den Inhaftierten mit seinem Besuch akustisch verbindet, hört man schlecht. «Ich hatte im Iran kein gutes Leben», fasst er seine Vergangenheit zusammen, die er so gerne hinter sich lassen würde. Er sei nach Europa gekommen, auf der Suche nach einem schöneren Leben. Nach Perspektiven.
Über den Abend, der ihn in die Untersuchungshaft gebracht hat, über den Brand, spricht Arash G. kaum. Er kann sich an wenig erinnern, wegen seiner Kopfverletzung und der Medikamente. Er habe als Kind einen schweren Autounfall gehabt. Zwei große Narben über seinem rechten Ohr erinnern daran. Dabei habe er sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Außerdem muss er Medikamente nehmen, gegen Depressionen; weitere, damit er nachts schlafen kann. Und tagsüber Beruhigungsmittel. Zwei Tage später wird er vor Gericht unter Tränen dasselbe erzählen.
Wieder und wieder will er von seiner Besucherin wissen, wie sie den bevorstehenden Gerichtsprozess einschätze. Immerhin beträgt das mögliche Strafmaß für Brandstiftung mit Fremdgefährdung bis zu 15 Jahre Haft.

Im Widerstand.

Hätten G. und seine Zellenkollegen eine andere Art des Widerstands gegen ihre Abschiebung gewählt, hätten sie wohl bessere Chancen gehabt, aus der Schubhaft entlassen zu werden. Gegen die Anhaltung bis zu 72 Stunden vor einer Abschiebung kann man juristisch kaum vorgehen; und auch bei der Schubhaft ist das nur bedingt aussichtsreich: Rechtlich gesehen sind Beschwerden möglich, über sie muss binnen sieben Tagen entschieden werden. Viele der Schubhäftlinge wählen aber andere Mittel, wie eine Parlamentarische Anfrage vom Oktober 2018 zeigt: In den ersten zehn Monaten des letzten Jahres gab es österreichweit 58 Suizidversuche in Abschiebehaft.
Am erfolgreichsten war bis vor wenigen Jahren noch der Hungerstreik. 2009 mussten beinahe 500 Menschen aus der Schubhaft entlassen werden, da ihnen aufgrund schlechter Blutwerte als Folge der Nahrungsverweigerung Haftunfähigkeit attestiert wurde. Noch 2013 haben über 1000 Schubhäftlinge österreichweit das Essen verweigert. Als Reaktion auf den massiven Widerstand in den Abschiebegefängnissen wurde die «Heilbehandlung», im Volksmund wohl eher als «Zwangsernährung» bekannt, eingeführt. Wann und wie diese verordnet wird, werde sehr individuell entschieden, so Ruxandra Staicu von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung. «Ich hab schon erlebt, dass Hungerstreik bis zur Haftunfähigkeit funktioniert. Ich hab aber auch ‹Heilbehandlungen› – die bis zur Zwangsernährung geführt haben – mitbekommen», erzählt Staicu. «Damit war dann wieder Haftfähigkeit gegeben.»

Wieder in Abschiebehaft.

22. März, Landesgericht I: «Im Namen der Republik» beginnt die Richterin die Urteilsverkündung. Wie alle anderen erhebt sich Arash G. von der Anklagebank. Er schließt die Augen.
Alle sechs Männer aus der Zelle 106 werden wegen schwerer Sachbeschädigung, fahrlässiger Körperverletzung und Gemeingefährdung verurteilt. Das Gericht ist der Meinung, sie hätten alle mitgezündelt. Die verhängten Strafen belaufen sich auf drei bis zwölf Monate Haft. G.s Strafe liegt im unteren Bereich. Nach sechs Monaten Untersuchungshaft hat er seine Strafe bereits zur Gänze abgesessen und käme frei, wenn er einen gesicherten Aufenthalt hätte.
Die anfängliche Freude weicht schnell der Ohnmacht. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung werden Arash G. und zwei weitere Männer wieder ins PAZ Hernalser Gürtel in die Schubhaft überstellt.