Eine Frage der Haltungtun & lassen

Inklusive Bildung: ein Recht für alle? In Wien steigt der Anteil an Kindern in Sonderschulen wieder. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bekommen oft keinen Platz in einer Regelschule. Muss das sein?

Text: Ruth Weismann

Freitag Mittag, Schulschluss für viele Kinder in Wien. Auch in der Leopoldschule im zweiten Bezirk strömen sie durchs Tor, begrüßen Eltern, verabschieden sich von Freund_innen. Die Leopoldschule ist eine sogenannte inklusive Schule: Im Volksschulzweig gibt es fünf Inklusions/Integrations-Klassen, in denen jeweils bis zu vier Kinder mit erhöhtem Förderbedarf und rund 20 Kinder ohne erhöhten Förderbedarf gemeinsam lernen. Erhöhten Förderbedarf haben etwa Kinder am Autismusspektrum, mit unspezifischen Entwicklungsverzögerungen, Down-Syndrom und anderem. Daneben gibt es sieben Klassen für jeweils bis zu acht Schüler_innen, die von Sonderpädagog_innen unterrichtet werden. Diese Spezialklassen sind nicht vergleichbar mit den Inklusionsklassen, wo es oft um Schwächen in einzelnen Bereichen geht, wie Schulleiter Markus Pusnik betont: «Bei den Spezialklassen geht es schon um mehr.»
Die Leopoldschule ist beliebt, es gibt mehr Anmeldungen, als bewältigt werden können. Solche Schulen sind rar in Wien. In Österreich werden bereits mehr als 50 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen unterrichtet, in Wien steigt der Anteil an Kindern in Sonderschulen aber seit einiger Zeit wieder. Als Modellregionen haben Steiermark, Kärnten und Tirol viel für ein inklusives Bildungswesen getan.

Freie Schulwahl.

Österreich hat sich 2008 dazu verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, die ein inklusives Bildungswesen vorsieht. Der Nationale Aktionsplan 2012 bis 2020 hat dann Maßnahmen zu dessen Umsetzung vorgegeben: «Entwicklung von inklusiven Modellregionen. Erfahrungssammlung und darauf aufbauend Erstellung eines detaillierten Entwicklungskonzeptes sowie flächendeckender Ausbau der inklusiven Regionen bis 2020.»
Begonnen hat alles mit dem Schulreformpaket 1993, wo die schulische Integration als Aufgabe der Volksschule gesetzlich verankert wurde. Drei Jahre später kam die gesetzliche Verankerung der Integration von behinderten Kindern in der Sekundarstufe I. Die Homepage des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung gibt dazu Folgendes an: «Der Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) kann auf Wunsch der Eltern entweder in einer der Behinderungsart entsprechenden Sonderschule oder in integrativer/inklusiver Form in der Regelschule (Volksschule, Hauptschule oder Unterstufe einer allgemeinbildenden höheren Schule) erfolgen.»
Die freie Schulwahl wäre also vorgesehen, aber: «Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung haben es bei allen Übergängen im Bildungssystem schwer», sagt Bernhard Seckl, Sonderpädagoge an der Leopoldschule. «Das beginnt, wenn es um den Krippenplatz geht, da einen Platz zu finden ist nicht leicht. Es kommt wieder am Übergang zur Volksschule, und wieder am Übergang zur Sekundarstufe 1.» Eltern berichten ihm von der langen und schwierigen Suche nach einer Regelschule, die ihr Kind aufnimmt. «Also die Eltern, die das auch tun können. Die anderen nehmen den kurzen Weg, das ist dann die Sonderschule» so Seckl.
Schulen argumentieren die Ablehnung von Kindern oft damit, nicht die nötigen Kompetenzen und Ressourcen zu haben. Einen Grund dafür sieht Schulleiter Markus Pusnik in der Vorannahme, dass es da auf jeden Fall Therapieeinrichtungen und Expert_innen brauche. Weiterer Grund: die Ressourcen einer Schule, die manchmal schlicht nicht reichen würden. «Es ist also einerseits eine Haltungsfrage, andererseits resultiert die Haltung auch aus der Erfahrung mangelnder Ressourcen», sagt Seckl. «Und da sind wir wieder bei der UN-Konvention, die klipp und klar sagt: individuelle Unterstützungsmaßnahmen für jedes Kind.»

Eine Frage der Bildungspolitik.

Die Vorgaben sind also da. Den Schulen, die sich entschließen, integrativ/inklusiv zu arbeiten, wird der entsprechende Betreuungsschlüssel zur Verfügung gestellt. Als in den 90ern die Wahlfreiheit bei Schulen gesetzlich verankert wurde, waren die Ressourcen allerdings größer, eine zweite Lehrkraft so wie mehr Raum wurde immer gewährt, erzählt Seckl, der selbst mehr als 20 Jahre Erfahrung als Sonderpädagoge hat.
Pusnik meint, es sei nicht alleine fehlendes Geld dafür verantwortlich zu machen, dass es in Wien wieder mehr Sonderpädagogik als Unterricht in Regelklassen für Kinder mit Förderbedarf gibt. Es koste ja auch etwas, zwei Lehrpersonen in eine Sonderklasse mit höchstens acht Kindern zu stellen. «Natürlich braucht es Expert_innen für die Bildung von Kindern mit mentalen Beeinträchtigungen, natürlich kostet es auch Geld, aber man muss es eben wollen. Und der Wille ist offensichtlich nicht ganz da. Ich glaube, es ist tatsächlich eine Haltungsfrage, eine ideologische Frage, eine Frage der Bildungspolitik: Wen nehmen wir in den Fokus?» Schulen wird es freigestellt, ob sie inklusive Bildung anbieten oder nicht. «Da wird oft eher nein gesagt», so Seckl, da die Angst bestehe, die Herausforderungen nicht bewältigen zu können.

Lange Schulwege.

Für Eltern sei die Schulsuche zermürbend. Rein pragmatisch gesehen ist der Alltag mitunter schwierig zu bewältigen, wenn man mit dem Kind quer durch die Stadt muss, um zur Schule zu kommen. «Jedes Kind sollte das Recht haben, dort in die Schule zu gehen, wo es wohnt», so Pusnik.
Martin Rauch hat Erfahrung mit so einem Alltag. Sein Sohn Moritz lebt mit Down-Syndrom, spricht nicht und geht in zweite Klasse Volksschule in seinem Grätzl – in eine öffentliche Regelschule. Er hätte nach dem Wunsch seiner Eltern auch in den nächst gelegenen öffentlichen Kindergarten gehen sollen, wurde aber nicht genommen. «Wir mussten drei Jahre lang die große Schwester in die eine Richtung bringen, den kleinen Bruder fünf bis sechs Busstationen woandershin.»
Mit der Volksschule hatten sie dann Glück. «Als meine Frau und ich zum ersten Mal dort waren, hatte ich den Eindruck, sie hätten es lieber, wenn wir ihn woanders hinschicken würden.» Die Rauchs erbaten sich, dass Moritz zum Schnuppern kommen kann. «Nach 20 Minuten kam die Direktorin zu uns und sagte, er kann gerne hier in die Schule gehen.» Rauch sieht da auch die Persönlichkeit seines Sohnes als ausschlaggebend: «Er ist sehr sozial. Aber es muss auch Platz geben für Kinder, die nicht so ‹lieb› wirken.» Moritz wird nach dem leichtesten der drei möglichen Lehrpläne unterrichtet. Da es sich um eine Ganztagsschule handelt, gibt es eine Haupt- und eine Begleitlehrerin pro Klasse sowie Freizeitpädagog_innen. Bislang klappt alles gut, sein Sohn gehe gerne in die Schule. Aber wo geht’s nach der Volksschule weiter? «Das wird die nächste, noch größere Challenge», vermutet Rauch.

Schule: Abbild der Realität.

Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ist das Recht jedes Menschen. Das beinhaltet auch Bildung ohne Segregation. Darauf zielt u. a. die aktuelle Kampagne des Vereins Down-Syndrom Österreich ab, bei dem Rauch aktiv ist. «Es ist auch wichtig, dass alle anderen Kinder in der Schule mitkriegen: Es gibt Behinderung, das ist ok.» Auch Markus Pusnik ist überzeugt, dass Schule ein Abbild der Realität sein müsse. Es gehe aber nicht darum, Sonderschulen gänzlich abzuschaffen. Es gebe Kinder, die in diesem geschützten Rahmen sehr gut aufgehoben seien, in zeitlich begrenzten, kritisch begleiteten und reflektierten Beschulungsszenarien. «Aber da, wo es Wahlfreiheit gebe und wo keine besonderen therapeutischen Gründe dagegen sprechen, da braucht es Eltern, die auf ihr Recht pochen.»
Damit Eltern das aber nicht mehr tun müssen, braucht es Rahmenbedingungen. Der Rechnungshof hat in seinem Bericht über das inklusive Bildungswesen 2018 Empfehlungen abgegeben. Finanzierung ist notwendig, ein gesetzlicher Rahmen, das Recht auf Bildung und gemeinsamen Unterricht soll einklagbar sein. Pusnik und Seckl plädieren für eine Verpflichtung von Regelschulen, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufzunehmen. Der Rechnungshof empfiehlt auch ein professionelles Unterstützungssytem.
2017 beauftragte die Wiener Bildungsdirektion die Leopoldschule mit dem Aufbau eines Kompetenzzentrums für Down-Syndrom und Schule, das die «Umsetzung der bildungsgerechten und inklusivgeleiteten Pädagogik im Rahmen von Down-Syndrom» anstrebt und Pädagog_innen anderer Schulen berät. Ein wichtiger Schritt!

Kampagne
Down-Syndrom. Na und?

«Ich lege dir keine Steine in deinen Lebensweg. Und du?», steht auf einem Plakat, auf dem «Mike, 42» abgebildet ist. Die neue Plakatkampagne des Vereins Down-Syndrom Österreich, eine Serie mit sieben Sujets, geht von Artikel 7 der Österreichischen Verfassung aus: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» Und weiter: «Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.» Dass noch einiges zu erledigen ist, um von Bekenntnis zu Gewährleistung zu gelangen, macht der Verein in den fünf Kampagnensujets deutlich: Inklusion und Selbstbestimmung müssen in allen Bereichen des Lebens gelten – nicht gnädiger Weise, sondern ausnahmslos.
down-syndrom.at

Hier zum INTERVIEW!