Eine Geburt, nach der jemand fehlttun & lassen

Illustration: © Silke Müller

Die Rate der Schwangerschaftsverluste ist hoch, das Schweigen darüber könnte kaum ausgedehnter sein. Die Folgen: Schuldgefühle und Isolation. Betroffene, Hebammen und Frauenärztinnen plädieren hier für die Enttabuisierung von Fehlgeburten.

Es gibt Momente im Leben, die so tief erschüttern, dass es ­keine Worte gibt, um sie hinlänglich zu beschreiben. Der Verlust eines Kindes ist so ein Moment. Carina, die in Wirklichkeit anders heißt, erlebte ihn in ihrer 14. Schwangerschaftswoche: Das Herz ihres Babys hatte aufgehört zu schlagen. «Ich wusste schon vor dem Termin, dass etwas nicht stimmt», erinnert sich Carina an den Tag, als sie den Termin bei ihrer Frauenärztin ausmachte.
Was Carina ahnte, bestätigte sich bei der Untersuchung: Es waren keine Herztöne mehr da. Der Moment, als ihre Gynäkologin ihr die Nachricht ­mitteilte, war überwältigend.
Doch es war nicht nur der Schock über den Verlust, sondern auch die Art und Weise, wie ihr begegnet ­wurde. Schon zu Beginn ihrer Schwangerschaft wurde sie von der Ärztin nahezu vorwurfsvoll auf ihr Alter hingewiesen, Carina ist 44, und nach dem bitteren Untersuchungsergebnis hätte sie sich zumindest ein wenig Empathie erwartet, bedauert sie.

Von der Freude zur Trauer

Nun war Carina völlig unterwartet Mama eines Sternenkindes geworden. So werden sehr früh oder noch während der Schwangerschaft verstorbene Kinder liebevoll bezeichnet. Weder ist Carina ein Einzelfall, noch spielt dabei ihr Alter eine Rolle. Laut einer Studie der englischen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erleben weltweit jährlich etwa 23 Millionen Frauen einen Schwangerschaftsverlust. In Österreich endet jede vierte bis fünfte Schwangerschaft in einer Fehlgeburt. «Die tatsächlichen Zahlen sind vermutlich aber noch höher, da nicht alle Fälle erfasst werden», so ­Mirijam Hall, Assistenzärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Klinik Ottakring.
«Viele Frauen fühlen sich nach ­einer Fehlgeburt schuldig. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht oder ob sie versagt haben. Diese Schuldgefühle sind tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und führen dazu, dass viele Frauen in den ersten Wochen der Schwangerschaft niemandem davon erzählen, um sich vor dem Stigma eines möglichen Verlustes zu schützen», beschreibt die Frauenärztin diese Unsicherheiten als weit verbreitet.
Dieses Verschweigen wird unterstützt durch den gängigen Rat, das Umfeld erst nach der 12. Schwangerschaftswoche zu informieren, da bis dahin das Risiko einer Fehlgeburt sehr hoch ist. Doch was, wenn eben genau das passiert? Wenn niemand Bescheid weiß, ist es noch ungleich schwerer, darüber zu sprechen.
Carina ist Mutter von drei Kindern im Alter von fünf bis dreizehn Jahren. Ihre Kinder fieberten von Beginn an mit und freuten sich auf das neue Familienmitglied. «Meine Kinder waren sehr involviert und wir haben alle mit dem Baby gesprochen. Als wir ihnen dann von dem Verlust erzählten, haben sie geweint. Aber für sie ist das Baby ­immer noch da. Sie reden manchmal weiterhin mit ihm und behandeln es wie einen Teil unserer Familie.»
Auch Carinas Partner war zutiefst betroffen. «Er hat die Schuld bei sich gesucht, war wütend und verzweifelt, doch dann war es für ihn vorbei», erinnert sie sich. «Er konnte nicht nachvollziehen, dass es bei mir länger dauert. Schließlich musste sich auch mein Körper hormonell wieder umstellen, und das ist nicht in ein paar Tagen erledigt.»
Tatsächlich ist die Belastung für das System Familie nach einem solchen Verlust enorm und wird oft unterschätzt, darauf weist die ­einfühlsame Broschüre des Bundeskanzleramts Stille Geburt oder Tod des neugeborenen Kindes hin. Statistische Daten zeigen, dass bei 80 Prozent aller Partner:innenschaften auf den Tod eines Kindes eine ernsthafte Krise folgt. Die Eltern können auf verschiedene – oft entgegengesetzte – Weise trauern und sind häufig unfähig, einander zu verstehen und zu helfen, was zu Auseinandersetzungen und Entfremdung führen kann.
Eine enge Freundin half Carina in dieser Situation, zu verstehen, dass Männer oft anders mit Verlusten umgehen: «Ihre Worte haben mir sehr geholfen. Männerkörper funktionieren anders, sie verarbeiten mehr auf der physischen Ebene und schneller. Das bedeutet aber nicht, dass sie weniger empfinden.»

Der medizinische Ablauf

Nach der Dia­gnose standen drei mögliche Varianten für den weiteren Verlauf im Raum. Mirijam Hall erklärt: «Es gibt den natürlichen Abgang, der jedoch mehrere Wochen dauern kann. Wenn länger als eine Woche bis zum natürlichen Abgang zu erwarten ist, empfehle ich einen medikamentösen Abgang.» Dabei wird ein Medikament vaginal verabreicht, das den Muttermund öffnet und die Gebärmutter zur Kontraktion bringt.
Bei Carina kam aus medizinischen Gründen jedoch die dritte Variante zur Anwendung, eine Kürettage. Das ist ein ambulanter Eingriff unter Vollnarkose. Es wird Gewebe aus der Gebärmutter entfernt, um Komplikationen wie Infektionen zu vermeiden. Der Eingriff ist medizinisch routiniert, doch ­Carina empfand ihn als belastend, vor allem wegen der Erwartungshaltung aus dem Umfeld, sofort wieder zu funktionieren.
Die körperliche Rekonvaleszenz nach Fehlgeburten verläuft laut der Gynäkologin in den meisten Fällen schnell: «Einem Großteil der Frauen geht es körperlich nach ein, zwei Tagen schon recht gut.» Doch sie betont, dass der psychische Heilungsprozess sehr viel länger dauert: «Frauen ­müssen Zeit für Trauer und den Abschied bekommen. Sie sollten sich aber auch bewusst sein, dass es nicht ihre Schuld ist und sie nichts hätten anders machen können.»
In der Betreuung von Frauen nach einer Fehlgeburt spielen Hebammen eine entscheidende Rolle. «Wir unterstützen Frauen auf körperlicher Ebene, helfen bei der Gebärmutterrückbildung, beobachten den Wochenfluss und beantworten Fragen wie ‹Wie lange sind Blutungen normal?› », erklärt Pia ­Waldenburger, eine erfahrene Hebamme. «Es ist wichtig, den Frauen das Gefühl zu geben, dass sie auch nach einer Fehlgeburt in den Zyklus des Lebens zurückfinden können.»
Waldenburger ist überzeugt, dass das kollektive Schweigen um Fehlgeburten dringend durchbrochen werden muss. «Bis zur 12. Schwangerschaftswoche niemandem von der Schwangerschaft zu erzählen, nur weil das Risiko einer Fehlgeburt hoch ist, macht die Situation nach einem Verlust umso schwieriger. Frauen brauchen die Möglichkeit, ihr Schicksal mit anderen zu teilen. Wenn niemand davon weiß, können sie keine Unterstützung erwarten, und unbeabsichtigt unpassende Fragen wie ‹Wann kommt denn bei euch Nachwuchs?› treffen umso härter.»
Die Hebamme sieht in der kürzlichen Einführung einer gesetzlichen Hebammenbegleitung bei einer Fehlgeburt ab der 18. Schwangerschaftswoche einen wichtigen Schritt. «Es ist großartig, dass sich hier etwas tut, aber ich denke, da geht noch mehr. Frauen brauchen diese Unterstützung auch früher. Wir haben 2024 – warum hören Frauen immer noch Sätze wie ‹Mach nicht so ein Tamtam›? Das macht mich traurig.»

Tabu und Isolation aufbrechen

Carina hat es als heilsam empfunden, offen über ihren Verlust zu sprechen. Da sie beruflich mit großen Frauengruppen arbeitet, geschah es, dass sie während einer Veranstaltung vor 100 Teilnehmer:innen von der Fehlgeburt berichtete: «Die Frauen wussten alle von meiner Schwangerschaft, daher war es naheliegend, auch den Verlust mit ihnen zu teilen. Die Reaktionen waren überwältigend positiv.» Für Carina bedeutet es Heilung, zu wissen, dass sie nicht alleine ist. Auch Pia Waldenburger sieht die Kraft des Austauschs: «Wenn eine Frau zu sprechen beginnt, ist es erstaunlich, wie viele andere sich anschließen. Es braucht nur jemanden, der diesen Raum öffnet.»
Für viele Betroffene ist auch wichtig, ihrem verlorenen Kind einen Namen zu geben, erzählt die Hebamme, «und zwar ganz unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt es gestorben ist». Ihre eigene Mutter war ihr darin ein Vorbild: «Meine Mama hat in den 1990er-Jahren ein Kind verloren, das war die ­Magdalena. Und sie hat immer ganz offen darüber gesprochen. Eine echte Vorreiterin.»
Mirijam Hall fordert einen gesellschaftlichen und politischen Wandel im Umgang mit Fehlgeburten. «Frauen benötigen niederschwellige psychologische Angebote, eine bessere Aufklärung und die Möglichkeit, sich krankschreiben zu lassen, ohne dafür in eine Bittstellerinnenposition zu kommen.» Für die Gynäkologin ist klar, dass Fehlgeburten kein Tabuthema sein dürfen: «Es ist ein sehr einschneidendes Erlebnis, das die Lebensrealität vieler Frauen prägt. Niemand sollte das allein durchstehen müssen.»
Es braucht eine Gesellschaft, die Frauen auffängt, statt sie zu stigmatisieren. «Ein Schwangerschaftsverlust stellt uns als Frauen nicht in Frage», das ist Carina wichtig zu betonen, gerade auch mit Blick auf ihre Töchter, die selbstbewusst von Mädchen zu ­Frauen heranwachsen sollen. «Er ist kein Zeichen von Schwäche oder Versagen», sagt sie.
«Frühe Fehlgeburt als Physiologie, und damit als schaffbares Erlebnis im Frauenleben einzuordnen, wäre unser Wunsch», so Eli Candussi, Obfrau des Vereins 12Wochen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Frauen nach einem frühen Schwangerschaftsverlust gut zu begleiten. «Weg von der Pathologisierung von ‹Frauenthemen› hin zu Selbstwirksamkeit und klar definierten Unterstützungsangeboten», dafür plädiert sie. Denn eines sollte klar sein: «Nur weil wir es können, sollten wir es nicht allein schaffen müssen!»

Hebammenbegleitung bei späten Fehlgeburten

Im September dieses Jahres wurde in Österreich ein gesetzlicher Hebammenbeistand bei Fehlgeburten nach der 18. Schwangerschaftswoche eingeführt. Diese Regelung sieht vor, dass Frauen, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft befinden und einen Schwangerschaftsverlust erleiden, Anspruch auf Unterstützung durch eine Hebamme haben. Eine Maßnahme, die längst überfällig war. Bislang war es nur bei frühen Fehlgeburten der Fall.
Hebammen überwachen die Gebärmutterrückbildung und den Wochenfluss, unterstützen bei der hormonellen Umstellung und der Rückkehr in den Zyklus, beantworten medizinische Fragen und leisten psychologische Begleitung und Vernetzung mit anderen Betroffenen. Die Hebamme kann somit erste:r Ansprechpartner:in für zu Hause und zentrale Ansprechperson für Menschen in dieser schwierigen Lebensphase sein.

 

www.mein-sternenkind.net
www.hebammen.at
www.12wochen.at
www.verein-pusteblume.at

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