Eine Gesellschaft sitzt festDichter Innenteil

field report aus der österreichischen Provinz

Bedauerlicherweise werden die offenbaren Schwierigkeiten, zu bestimmen, was eine Gesellschaft und deren Kultur sei, gerne verschwiegen. «Kultur» wurde längst zu einem Kampfbegriff.

Illustration: Karl Berger

Rosa Luxemburg machte sich noch darüber lustig, wie in ihrer Zeit uralte Kulturen aus dem Boden zu sprießen begannen, die sich eifrig mit märchenhaften Traditionen und Mythen schmückten, die kurz zuvor noch unbekannt gewesen waren. Hundert Jahre später wird viel von dem damals erfundenen Stuss geglaubt. Gesellschaften werden heute als «parallel» ausgegeben, weil sie angeblich unüberbrückbare kulturelle Differenzen aufweisen. Worauf aber fußen solche Befürchtungen? Darauf, dass die Menschen einander fremd sind und nicht miteinander reden? No na – sie müssen es ja auch nicht. Warum bei den Nachbarn klingeln, wenn alle Lebensbereiche mit Gleichgesinnten abgehandelt werden können? Aufrufe zum Miteinander haben meist etwas Gezwungenes, und die Forderung nach Integration ist schlicht eine Unverschämtheit. Nicht nur, weil damit künstlich ausgesonderten Gruppen eine Bringschuld aufgebürdet wird, sondern weil verkannt wird, wie das Zusammenleben – trotz aller Vereinzelung – ständig gelingt. Dies zeigt sich insbesondere in sogenannten «Notsituationen».

«Schneechaos»

Tauchen wir einmal ein in diese geheimnisvolle Twilight-Zone einer ungreifbaren Gesellschaft. Ort der Handlung: eine normalerweise verwaist dastehende Bahnhofshalle in der österreichischen Provinz. Gerade beginnt sie sich zu füllen. Zeit: irgendwann im Niemandsland zwischen Weihnachten und Neujahr. Die handelnden Personen: Menschen in Österreich, die gerne mit einem Zug gefahren wären. Dies geht aber nicht, weil von der Schneelast erdrückte Bäume auf die Schienen gefallen sind. Wir wissen nichts über diese Menschen und werden auch kaum etwas über sie erfahren. Allenfalls werden gewisse Äußerlichkeiten zeigen, dass ein gemeinsamer Kern zivilisatorischer Errungenschaften zwischen ihnen zu bestehen scheint.

Ein kleines Mädchen mit sonnigem Gemüt in der eiskalten Winternacht. Unaufhörlich plappert es mit allen Anwesenden. Etwas abseits, sein Vater, dem dies unangenehm ist. Der Pulli des Kindes ist mit winzigen, glitzernden Pailletten bestickt. Wie eine Prinzessin. Es plant aus dem wässrigen Schneematch auf dem Bahnhofsvorplatz einen Schneemann zu bauen. Unmöglich – zu wenig Material. Die anderen Kinder werden aufmerksam. Dann eben eine Schneeballschlacht. Linkisch wirft es einen Krümel Schnee in die Nacht. Ein kleiner Junge formt behände einen Schneeklumpen und knallt ihn dem Mädchen an den Kopf. Die Mutter des Jungen lässt ihre zwei anderen Kinder stehen und eilt dem Mädchen zu Hilfe. Auch sein Vater kommt zögerlich herbei. Das Mädchen lacht. Der nasse Schnee wird mit vereinten Kräften aus den Haaren und dem Pulli gekratzt. Das Mädchen redet mit seinem Vater arabisch. Der Vater schaut die Mutter des Jungen mit sanfter Besorgnis an, er scheint Vergebung für die Wildheit seiner Tochter zu wünschen. Die Mutter des Jungen lächelt und sagt etwas, was die Menschen in Österreich halt so sagen.

Ein hübsches junges Paar kommt aus der Halle. Ihre Gesichter sind weiß wie der Schnee. Sie tragen umständlich Flaschen mit Orangensaft herum und werfen sich kleine Dialektfetzen zu. Meist schauen sie auf die Displays ihrer Smartphones. Die beiden gehen regelmäßig auf den Bahnhofsvorplatz, um zu rauchen. Es zeigt sich: Das Leben in der steirischen Provinz ist für Teenager ohne mother nature kaum zu ertragen. Sie wirken entspannt und irgendwie glücklich.

«Aufreger»

In der Halle baut sich ein Mann vor dem Bahnhofsvorsteher auf. Der Bahnmitarbeiter würde seinen Kopf gerne unterhalb der Schultern tragen, weil ihm ständig Fragen gestellt werden, auf die er keine Antwort hat. Es werden wieder Züge fahren, nur ist unklar, wann. Der entrüstete Mann erklärt dem Bahnbediensteten, dass wichtige Aufgaben auf ihn in Wien warten. Seinen Entschluss, in Hinkunft nur mehr das Auto zu wählen, erfährt die ganze Halle. In der Dunkelheit vor den Türen schiebt sich ein Schneepflug vorbei.

Eine Gruppe junger Männer steht zusammen. Sie haben sich mit ihren Frisuren viel Mühe gegeben. Sie lächeln und scherzen über die Kälte in der Halle, die ihnen – trotz ihrer spärlichen und sexuell aufreizenden Kleidung – wenig auszumachen scheint. Das kleine Mädchen geht furchtlos zu ihnen. Bald reden sie arabisch miteinander.

Ein junger Mann sitzt eingesunken auf der Bank. In sein Gesicht hat er zwei rote Streifen gemalt, die längst verblasst sind. Die Euphorie, die ihn noch vor kurzem erfüllt hat, musste er beim Weltcuphang zurücklassen. Jetzt blickt er deprimiert seine Füße an und wäre gerne betrunkener. Neben ihm wird einem alten Mann ein Sitzplatz freigeräumt, auf dem er sogleich seinen Asthmaspray nimmt. Er blickt sorgenvoll.

Die Stunden verstreichen. Ein Zug wird durchgesagt, der in zwanzig bis dreißig Minuten eintreffen soll. Zwanzig Minuten später werden für den Zug nochmals dreißig Minuten veranschlagt. Diese Art der Zeitberechnung erheitert die Zuhörenden kurz, macht sie nun aber auch zunehmend ungehalten. «Wir sitzen hier fest», sagt eine Frau in ihr Funktelefon. Sie hat ein hochgewachsenes Kind an ihrer Seite, das beharrlich schweigt, und offenbar würde sich die Frau gerne weiter erregen. Ob nicht jemand jemanden wüsste, den man anrufen könnte, um sich über den unhaltbaren Zustand zu beschweren?

Tatsächlich erscheint die Halle von Augenblick zu Augenblick kälter. Rund um das Gebäude liegt die spärlich beleuchtete Nacht. Bahnhofsgaststätten gibt es keine mehr. Der verschneite, leere Parkplatz hat Bahnreisenden nichts zu bieten. Allen scheint klar zu sein, dass die zahlreichen Kinder und Alten bald mehr brauchen werden als das eisige WC, das neben Gleis 1 liegt. Die Fremden beginnen miteinander zu reden. Ihre Empörung ist noch mild. Meist wird humoriger Spott über die Bundesbahnen herumgereicht. Die recht zahlreichen Bahnbediensteten haben sich in einem Kabuff verschanzt und geben ihre ahnungslosen Durchhalteparolen jetzt über Lautsprecher durch.

«Gefahren»

Die mit den gestrandeten Reisenden überfüllte Halle weckt zwangsläufig Assoziationen zur sogenannten «Flüchtlingskrise». Diese Krise ist im Kern eine moralische und als solche sehr erhellend. Anders als Sonntagsreden über kulturelle Werte und gesellschaftliche Errungenschaften behaupten, werden beim ersten Auftauchen von Schwierigkeiten Recht, Gesetz und Ordnung aus dem Heckfenster gekippt. Was nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges in der Genfer Konvention den Völkern dieser Erde Sicherheit bieten sollte, was Olof Palme Ende der 1960er Jahre in pathetischen Radioansprachen beschwor: Heute ist das alles Essig. «Zu teuer, zu viele – kann man nix machen.» Folglich: Stacheldraht, Internierungslager, Abschreckung, Potentatendeals.

Es ist eine dünne Kruste, auf der sich dieses unbekannte Wesen «Gesellschaft» bewegt. Ein Baum, ein Schienenstrang, schon funktioniert der Zug nicht mehr und gleich darauf finden sich viel zu viele Menschen in eine Bahnhofshalle gepfercht. Die prekäre Lage ist nur einen Schritt entfernt. Jetzt hängen alle aufeinander. Die Reißverschlüsse bersten, weil sich die überfüllten Reisetaschen nicht mehr schließen lassen, nachdem sie nach Essbarem durchsucht wurden. Der Frust kriecht in die Leiber. Es zeigt sich, wie enervierend es ist, wenn Menschen einander nicht verstehen. Ein junger Mann, der unverkennbar von gewissen Kreisen als Autochthoner geadelt werden würde, steht am Rand und betrachtet das Treiben. Liegt in seinem Blick bereits Abscheu? Ist er mit sich beschäftigt oder dient ihm das Schauspiel zum Beweis einer Art von «Untergang des Abendlandes». Mache sich niemand etwas vor, die Liebe kann gerne beschworen werden, aber der Hass ist eine enorme und höchst reale Macht. Wer in dieser Halle ist nicht in der einen oder anderen Weise mit seinem Leben unzufrieden? Wer erlebte nicht zumindest Zurückweisung? Und ein Gedanke drängt sich geradezu zwangsläufig auf: Wären wir weniger, dann wäre alles einfacher.

«Rettung»

Plötzlich sind viele Bahnmitarbeiter da, die glaubhaft machen können, dass bald wieder Züge fahren. Die Menschen haben längst – auch über Sprachgrenzen hinweg – miteinander zu reden begonnen. Augenscheinlich wirken sie beruhigend aufeinander ein. Die winzigen Gesten einer Minima Moralia zeigen sich. Alle beugen sich herab, wenn der Verschluss eines Babyfläschleins über den Boden kullert. Anscheinend ist dies allen Kulturen gemeinsam. Überall bieten die Anwesenden einander etwas an. Meist sind es Weihnachtskekse, die nach den Feiertagen niemand mehr sehen kann. Letztlich lächeln die meisten einander zu. Es mag sein, dass sich Unglück und Unzufriedenheit mit Wohlstand betäuben lassen. Es mag sein, dass die meisten Gespräche abgestanden sind, dennoch schenkt das leere Geplapper ein Gefühl dafür, dass «wir» da gemeinsam drinstecken. In was auch immer. Als jetzt nach Stunden des Wartens endlich ein Zug in den Bahnhof einfährt, gibt es für jede und jeden einen Sitzplatz und Gratiskaffee, und die bekannte Normalität lässt die Krise zu unbedeutenden Anekdoten gerinnen.

Haben die Anwesenden diese winzige Misere überstehen können kraft ihrer einzigartigen Kultur? Wurden Mythen bemüht? Hymnen gesungen? Hat irgendwer gebetet? Nein. Das Brimborium ist Folge des «Innenglanzes», nicht umgekehrt. Wenn Menschen aufeinandertreffen, dann ist dies notwendig vieldeutig. Es mag sein, sie können zuweilen in der Stille den Herzschlag der anderen hören, wie Raymond Carver meint – sie können einander aber auch tüchtig auf den Geist gehen. Das Entscheidende ist, das kaum begreifbare «Wesen» des Menschen ist offen. Der Mensch ist eine amorphe Masse, die sich anpassen und verschiedenste Formen annehmen kann. Das Geschenk eines inneren zivilisatorischen Wuchses wird allzu leicht gehemmt durch kulturelle Konstrukte, insbesondere wenn deren Einhaltung äußerlich aufgezwungen wird.

Frank Jödicke hat Kunst und Philosophie studiert. Er lebt als Autor und Redakteur mit Lebensgefährtin und Kind in Wien.

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