Eine Katastrophe in der Katastrophe: Wie man jetzt die Erdbebenhilfe in Syrien unterstützen kannAllgemein

Boulevard-Blog vom 22.02.2023

Am Montagabend gab es erneut starke Erschütterungen in Nordsyrien und der Südosttürkei. Es sind Nachbeben des verheerenden Erdbebens vor zwei Wochen, bei dem bereits mehr als 47.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Angesichts des schwierigen Zugangs zu Nordsyrien zeigen wir im Frage-Antwort-Format, wie man dort jetzt gezielt helfen kann.

 

Welche Hilfsorganisationen sind aktuell in Syrien im Einsatz?

Die einzigen großen Hilfsorganisationen, die aktuell in Nordsyrien agieren können, sind Ärzte ohne Grenzen, der Syrisch-Arabische Rote Halbmond und die Weißhelme. Sie alle waren auch schon vor der Erdbebenkatastrophe vor Ort, denn der Norden Syriens ist seit mehr als einem Jahrzehnt ein Kriegsgebiet. Die Sicherheitslage ist prekär, und das Gesundheitssystem war auch vor dem Erdbeben kaum in der Lage, die Bedürfnisse der Menschen einigermaßen abzudecken.

Ärzte ohne Grenzen ist eine internationale Hilfsorganisation, die seit mehr als einem Jahrzehnt auch in Nordsyrien tätig ist und medizinische und humanitäre Soforthilfe leistet.

Der Syrisch-Arabische Rote Halbmond (SARC) ist ein Teil der Internationalen Rotkreuz und Rothalbmond Bewegung und im Rettungseinsatz, Katastrophenschutz sowie in der Flüchtlingshilfe tätig.

Die Weißhelme (oder auch syrischer Zivilschutz) sind eine syrische Freiwilligenorganisation, die zu Beginn des Bürgerkriegs 2012 entstanden ist. Das Ziel der demokratisch-selbstorganisierten Gruppen: Menschenleben retten. Die Weißhelme führen derzeit Rettungseinsätze und Bergungen sowie Reparaturen von Stromnetzen und Kläranlagen durch und beseitigen Trümmer.

Wie kann man die Menschen vor Ort jetzt unterstützen?

Ungebundene Geldspenden helfen den Organisationen am meisten. Warum? «Weil sich der Hilfsbedarf bei so großen humanitären Krisen sehr rasch verändert. Nicht alles, was in der ersten Akutphase gebraucht wird, wird auch danach noch gebraucht. Zuerst geht es darum, Menschen zu bergen und zu stabilisieren. Danach werden hunderte Operationen durchgeführt, um die zum Teil Schwerverletzten zu behandeln. Danach kommen die Rehabilitation und die psychologische Unterstützung, zusätzlich der Wiederaufbau von Infrastruktur. Mit Geld können wir dem Hilfsbedarf am besten und schnellsten maßgeschneidert begegnen», erklärt Marcus Bachmann, Berater für humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen Österreich.

Welche Spenden kommen wirklich in Syrien an?

Neben der Unterstützung der genannten Hilfsorganisationen macht es Sinn, österreichische Vereine und private Initiativen von Syrer:innen in Österreich, die Angehörige oder Bekannte in den betroffenen Gebieten haben, zu unterstützen. Die großen internationalen Hilfsorganisationen und privaten Initiativen ergänzen sich in ihrer Arbeit. Bei privaten Initiativen kommen Geld und Material aktuell oft sogar schneller vor Ort an, da die Bürokratie geringer ist.

Beim Verein Fremde werden Freunde in Wien werden seit 2015 Geflüchtete betreut. Durch die Kontakte zur syrischen Community kann der Verein nun auch vor Ort Hilfe leisten, wie Geschäftsführerin Kathrin Limpel erklärt: «Dadurch, dass wir seit 2015 in dem Bereich arbeiten und sehr viele Menschen kennen, die in den betroffenen Gebieten in Syrien Familie und Bekannte haben, erfahren wir die Geschichten und Bedürfnisse aus erster Hand. Alle Spenden, die unseren Verein aktuell mit dem Verwendungszeck «Erdbeben» erreichen, geben wir 1:1 an diese Familien weiter. Sie können dann vor Ort das kaufen, was sie aktuell brauchen: etwa Lebensmittel und Brennholz. Viele geben das Geld auch weiter an andere Familien, die z. B. in Flüchtlingscamps festsitzen und durch die vom Erdbeben verursachten Lieferengpässe nicht ausreichend versorgt werden können.»

Wir verweisen hier außerdem auf die Spendenaufrufe folgender Vereine:

Takaful Austria wird von Syrer:innen, die in Österreich leben, organsiert. Sie haben Kontakt zu Familien vor Ort und wissen, was aktuell gebraucht wird. Takaful Austria organisiert Wohnmöglichkeiten für Überlebende. Es wurden bereits Grundstücke gekauft und einstöckige Bauten geplant. Diese sollen auch in Zukunft erdbebensicher sein.

Das Molham Volunteering Team ist eine Initiative, die von geflüchteten syrischen Studierenden in Europa gegründet wurde. Sie ist in der Katastrophen- und Nothilfe in Nordwestsyrien tätig.

Der Verein You are welcome wird von Österreich aus organsiert und ist laut dem Nahost-Experten Thomas Schmidinger vor Ort gut vernetzt. Noch diese Woche machen sich Freiwillige aus Syrien und dem Irak auf den Weg nach Aleppo, um aus den Spenden finanzierte Lebensmittel, Decken, Medikamente, Hygieneartikel und Babynahrung an die Erdbebenopfer zu verteilen.

Aber wieso ist die Hilfe in Syrien so viel schwieriger als in der Türkei?

«Es handelt sich bei Nordwestsyrien um eine Kriegsregion mit vielen verfeindeten Gruppierungen. Die hauptsächlich vom Erdbeben betroffenen Gebiete werden vom Hai´at Tahrir asch-Scha, einem extremistisch-islamistischen Bündnis sowie von der Türkei und ihren Hilfsmilizen beherrscht. Aber auch die zwei kurdischen Stadtviertel von Aleppo und Regierungsgebiete rund um Aleppo sind betroffen», erklärt Thomas Schmidinger. Der österreichische Politikwissenschaftler ist Nahostexperte und aktuell als Gastprofessor an der University of Kurdistan in Hewlêr im Nordirak tätig.

Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen ergänzt: «Die vom Erdbeben betroffene Region in Nordsyrien gilt seit mehr als einem Jahrzehnt als absolutes Krisengebiet. Von den 4,5 Millionen Menschen, die hier leben, gelten 2,8 Millionen als Binnenflüchtlinge, die durch den syrischen Bürgerkrieg ihre Heimat verlassen mussten. In der vom Erdbeben betroffenen Region gibt es 1.300 Flüchtlingscamps. Die Hilfsgüter, auf die auch vor dem Erdbeben schon knapp 90 Prozent der Menschen angewiesen waren, wurden alle über den bisher einzigen offenen Grenzübergang Bab al-Hawa ins Land gebracht. Ärzte ohne Grenzen war durch ein großes Lager zwar auf eine Erdbebenkatastrophe vorbereitet, dennoch stellen die politischen Auseinandersetzungen ein großes Problem dar.»

Thomas Schmidinger erklärt, warum auch die jetzt angeforderten Hilfsgüter oft nicht ankommen: «Das betroffene Gebiet ist am besten über die Türkei erreichbar, dort wurden jetzt nach internationalem Druck auch zwei zusätzliche Grenzübergänge geöffnet. Aber die Türkei ist natürlich selbst mit ihren Einsätzen schon total überfordert. An den Grenzen spielen sich daher dramatische Szenen ab. Eine Hilfsorganisation aus Irakisch-Kurdistan etwa, die über die Türkei nach Syrien wollte, hatte massive Probleme an der Grenze. Die türkischen Checkpoints wollten sie nicht reinlassen, sie mussten teilweise den Milizen Teile der Lieferungen abgeben, bis sie in das türkisch besetzte kurdische Gebiet gekommen sind. Die Türkei und die türkischen Milizen sowie das syrische Regime blockieren hier massiv die Hilfe für die Menschen vor Ort.»

Ohne die Krisenorte gegeneinander aufwiegen zu wollen, ist festzuhalten, dass auch die Spendenbereitschaft für Syrien schwächer ist als für die betroffenen Gebiete in der Türkei. Laut Marcus Bachmann liegt das auch daran, «dass die Sichtbarkeit der humanitären Krise in Nordwestsyrien viel geringer ist als in anderen Regionen. Besonders jetzt nach dem Erdbeben, aber eben auch schon vorher. Das liegt u. a. daran, dass der Zugang für Journalist:innen sehr schwierig ist. Es fehlt an Berichterstattung und dadurch an Bewusstsein.»

 

Hier finden Sie die direkten Links zu allen genannten Hilfsorganisationen und Initiativen zur Erdbebenhilfe in Syrien:

Weißhelme: https://www.whitehelmets.org/de/

Syrisch-Arabischer Roter Halbmond: https://www.icrc.org/de/wo-wir-arbeiten/naher-osten/syrien

Ärzte ohne Grenzen: https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/syrien

Fremde werden Freunde: https://www.fremdewerdenfreunde.at/
Für die Weitergabe der Spende an die betroffenen Familien in Syrien bitte den Verwendungszeck «Erdbeben» angeben. Nicht zweckgebundene Spenden unterstützen derzeit aber auch die psychologische Betreuung geflüchteter Syrer:innen in Wien.

Takaful Austria: https://www.takaful-austria.org/

Molham Volunteering Team: https://molhamteam.com/de/wecan

You are welcome: http://www.you-are-welcome.at/

Foto: Rami Alsayed, Ärzte ohne Grenzen