Eine Lobby der besonderen Arttun & lassen

Im Herbst gab nach zehn Jahren des Bestehens die BettelLobbyWien ihre Auflösung bekannt. Aus mangelnden Ressourcen. Ein großer Verlust für Menschen, die eine Interessensvertretung am dringendsten brauchen.

TEXT: CHRISTOF MACKINGER
FOTO: LISBETH KOVAČIČ

Fast zehn Jahre lang war der dritte Montag im Monat ein Fixpunkt für die beiden. Da hat die Wiener BettelLobby, und mit ihr Martina Kempf-Giefling und Annika Rauchberger, immer ins Amerlinghaus eingeladen – zur Rechtsberatung von Bettler:innen. Geworden ist daraus viel mehr: Ein Ort, wo man nicht mitleidig angeschaut oder abschätzig kommentiert wird und wo es Kinderbetreuung, manchmal sogar Weihnachtsgeschenke oder zumindest ein heißes Getränk gab. Ein Ort des Zusammenkommens für Menschen, deren mediale Darstellung zwischen krimineller Bettelmafia und ausgebeuteten Armutsopfern rangiert. Die Wiener BettelLobby war lange Zeit ein Fixpunkt der Parteilichkeit für von Armut Betroffene.
Auf Bettler:innen, viele aus Rumänien oder Bulgarien, sind die beiden Frauen im Jahr 2010 aufmerksam geworden. Sie waren damals beruflich in der mobilen Sozialarbeit tätig. «Die große Gruppe der Menschen, die betteln müssen, war nicht im Fokus der Streetwork, weil sie sprachlich nicht erreichbar war», erzählt Kempf-Giefling. Die studierte Sozialpädagogin spricht, so wie ihre Kollegin Rauchberger auch, Rumänisch. Das brachte den Zugang zu Menschen, die bis dahin kaum wen interessierten.
Ende September, mehr als zehn Jahre später, gibt die BettelLobbyWien ihre Auflösung bekannt. Nach mehr als einem Jahrzehnt ­Arbeit schließt eine Lobby der besonderen Art ihre Türen: «Um Betteln (sic!) zu können, braucht man kein Zeugnis, nur eine große Überwindung», heißt es in ihrem Abschiedsstatement, das gleichzeitig auch eine Gründungserklärung sein könnte. «Die Art und Weise, wie Armutsbetroffene von Politik, Polizei und Medien ­bestraft und kriminalisiert wurden, machte uns wütend und wir beschlossen, die Rechtsberatung ins Leben zu rufen, um ihnen zu helfen, sich gegen diese Willkür zu wehren.»

Mammutaufgabe.

Martina Kempf-Giefling und Annika Rauchberger haben Menschen dabei unterstützt, sich gegen den ­Rassismus und die behördliche Willkür zu wehren. Hinter dem Netzwerk BettelLobbyWien standen viele weitere Aktivist:innen wie ­Ferdinand Köller, Marion Thuswald, Peter Krobath und Maren Rahmann, Eli ­Fröhlich und Regina Schmid, die viel Zeit und ­Energie in das Projekt steckten. Nun fehlen die Ressourcen. Neben ihnen gibt es eine ­ganze Reihe weiterer Aktivist:innen in Oberöster­reich, ­Tirol und Salzburg, die weiterhin bestehen.
Die Wiener BettelLobby war keine professionelle Einrichtung, sondern eine Gruppe von Ehrenamtlichen, die sich ­einer «Mammut­aufgabe» gestellt haben, wie sie es heute sagen. Es ging ja nicht nur um Rechtsfragen. «Die Leute sind mit einem ganzen Rucksack anderer Sorgen zu uns gekommen», ­berichtet Rauchberger. «Die ­Leute» sind meist aus einkommensschwachen Verhältnissen, mit ­geringer Schulbildung und kaum Chancen auf Jobs oder leistbaren Wohnraum. Die ­wenigsten hätten sich vorgestellt, in ­Österreich betteln zu müssen. «Oft haben sie ­betont, ­einer regulären ­Arbeit nachgehen zu ­wollen: ‹Bevor wir aber gar nichts machen oder stehlen, gehen wir betteln›», erinnert sich Rauchberger.
Ein hilfloser Versuch, in Österreich Fuß zu fassen, der auch heute noch von vielen Seiten torpediert wird: Auf der einen Seite ist da die mediale Dämonisierung der Armut. «Bettlerflut» oder «Mafia» liest man auch heute noch. Mit Aufklärungskampagnen, Medienarbeit und Workshops für Sozialarbeiter:innen oder in Schulen versuchte die BettelLobbyWien die Perspektiven der Armutsbetroffenen sichtbar zu machen. Natasha, das bekannt gewordene filmische Porträt einer bulgarischen Bettlerin von Ulli Gladik – im Übrigen auch eine Aktivistin der BettelLobby –, trug das ihre dazu bei, den Blick auf das Schicksal einzelner Menschen zu verändern.
Eine weitere Hürde ist der Wohnungsmarkt: «Die Leute sind ja auch Strukturen ausgeliefert, die sie ausbeuten», weiß Martina Kempf-Giefling. Immer wieder sei sie auf Hausbesitzer:innen gestoßen, die 200 Euro pro Matratze nahmen und Menschen dafür in Massenunterkünften unterbrachten. «Aber die Bettler:innen haben sich auch vernetzt und ­ermächtigt.» Sie wollten nicht in Notschlafstellen unterkommen, sondern sich ein selbstständiges Leben aufbauen. Dabei seien sie auch «trügerischen Phantasien» auf den Leim gegangen, was in Österreich erreichbar sei.

Bettelverbot.

Eines der gröbsten Probleme im Alltag aber seien die Polizeistrafen fürs Betteln. Zwar hatte der Verfassungsgerichtshof im Jahr 2012 in einem richtungsweisenden Urteil das Salzburger Bettelverbot ausgehebelt, Betteln dürfe nicht generell verboten werden. Seitdem gehen die Behörden mit zeitlich oder räumlich beschränkten Bettelverboten vor. Die Polizei vergibt Anzeigen wegen «aufdringlichem», «aggressivem», «organisiertem» oder «gewerbsmäßigem Betteln». Alles nicht definierte Begriffe, was Polizeiwillkür befördere, so Rauchberger. Beispiele gefällig? «Gewerbsmäßig» sei es etwa, wenn jemand extra zu einem Ort hinfährt, um zu betteln. «Nanonanet», ärgert sich die Ex-Beraterin. Eine Geldstrafe gab es für «organisiertes Betteln», weil Mutter und Tochter beim Betteln Blickkontakt hielten: 235 Euro. «Die Frauen wollen aufeinander aufpassen und werden dafür bestraft.»
Die Strafen sind mit bis zu 700 Euro, wie es das Wiener Sicherheitsgesetz vorschreibt, ­unverhältnismäßig hoch. Und sie sind «im Fall der Uneinbringlichkeit mit einer Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche zu bestrafen», so Paragraph 2 des Gesetzes.
Jeden Monat kamen unzählige ­Betroffene in die Beratung der BettelLobby, um sich ­Unterstützung bei der Beanspruchung der oft hanebüchen argumentierten Anzeigen zu ­holen. «Viele müssen ihre Armut sehr teuer bezahlen», sagt Rauchberger. Manche gar mit zehn Jahre währenden Aufenthaltsverboten in ganz Österreich.
Auch dieses Jahr schon wurden in Wien allein bis September ganze 874 Anzeigen gegen Bettler:innen vergeben, lässt die Landespolizeidirektion Wien auf Anfrage wissen. «Vorwiegend wurde der Verdacht der Gewerbsmäßigkeit angezeigt.» Darüber hinaus werde «aggressives, aufdringliches, organisiertes oder das Betteln mit Kindern angezeigt». Viele hundert Geldstrafen für Menschen, die kein Geld haben.
Für die Aktivist:innen der BettelLobby selbst aber war die Abgrenzung eine der größten Herausforderungen. Dann etwa, wenn ­Geschenke nicht dankbar genug ­angenommen wurden – auch weil den Beschenkten die Scham ob ­ihrer Armut, unrealistische Wunschvorstellungen und Enttäuschungen in die ­Quere kamen. «Es ist schwierig, Menschen, die ­unter so großer Armut leiden, ohne eine staatliche Struktur wirklich zu helfen», weiß Kempf-Giefling. Die BettelLobby konnte natürlich nie alle Grundbedürfnisse und Wünsche der Menschen ­decken. «Das hat uns manchmal ­wirklich viel Kraft ­abverlangt. Hilfsbedürftigkeit auf solch ­hohem Niveau bringt auch sehr viel Verletzungen mit sich.»

Keine Ressourcen mehr.

Blickt man zurück, überwiegen aber die Momente der Dankbarkeit und schöner, menschlicher Begegnungen, wie die beiden erzählen. Eines ihrer schönsten Erlebnisse sei die Fahrt mit ihrem langjährigen Klienten Jan zur Armutskonferenz nach Salzburg gewesen, erzählt Rauchberger. Dort konnte der Mann von seinem Lebensalltag erzählen. Endlich hatten Armutsbetroffene die Gelegenheit, auch selbst zu Wort zu kommen. Später ereilte Jan jedoch ein ­tragischer Tod: Wegen fehlender Versicherung konnte er sich keinen Krankenhausaufenthalt leisten und verstarb schon mit 56 Jahren an ­Organversagen. Mithilfe einer Spendenkampagne konnte zumindest noch sein Wunsch ­erfüllt werden: ein ­Begräbnis in Rumänien. «Das hat sehr gut getan», erinnert sich Rauchberger. Sie hat damals bei der Friedensbrücke, wo Jan oft gebettelt hatte, ein Erinnerungsschreiben aufgehängt.
Öffentliche Wertschätzung bekam die BettelLobby im Jahr 2014, als ihr der Menschenrechtspreis verliehen wurde. Und trotzdem fand die Arbeit der Wiener Bettel­Lobby jetzt ein Ende. Voller Stolz blicken die Aktivist:innen auf ein Jahrzehnt Arbeit im Kollektiv zurück. Neben Corona, was Beratungen ­verunmöglichte, haben sich bei vielen von ­ihnen die Lebensrealitäten und Prioritäten verschoben. Gern gebe man aber Erfahrungen und die gesammelte Expertise weiter. «Wir sind ja nicht weg. Der Blick für bettelnde Menschen wird mir immer bleiben», sagt Rauchberger. Und ihr Appell damals wie heute: «Gebt’s Geld her, wenn ihr wen seht – und keine Einkäufe.» Damit Armutsbetroffene zumindest über das kleine Bisschen selbstbestimmt entscheiden können.

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