Eine neue Eurovisionvorstadt

Im niedersächsischen Hitzacker baut eine Genossenschaft in Gemeinschaft

Aus dem Nichts entsteht ein Dorf im Wendland für Familien, Flüchtlinge und Ältere. Im Kleinen wollen die Bewohner_innen dort vorleben, wie das Europa der Zukunft aussehen könnte. Benjamin Laufer (Text) und Lena Maja Wöhler (Fotos) besuchten Hitzacker/Elbe.Der Baugrund für ein neues Europa liegt in Niedersachsen, an der Elbe, in dem Städtchen Hitzacker. Rund 100 km von Hamburg und rund 240 km von Berlin entfernt. Vom Bahnhof Hitzacker sind es dann nur noch ein paar Schritte, bis man auf einer riesigen Wiese steht. Hier soll ausprobiert werden, wie Zusammenleben auf dem Land im 21. Jahrhundert funktionieren kann.

«Europa wird so liebenswert, wie wir es gestalten», sagt Sonja Deuter beim Rundgang um das 55.000 Quadratmeter große Grundstück, das ihre Genossenschaft gekauft hat, um darauf ein ganzes Dorf zu errichten. Mit Wohnhäusern für Flüchtlinge, Familien und Ältere, die dort gemeinsam und gleichberechtigt leben wollen. Das ist die Vision. «Es wird keine Zäune geben», schwärmt Sonja. «Die Grundidee ist Gemeinschaft.» Ein Schlagwort, das man von fast jedem hört, der sich hier engagiert.

Diese Gemeinschaft entsteht bereits jetzt, bevor auch nur ein Spatenstich getan ist. Vor dem Bahnhof sitzen zwölf ihrer Mitglieder in der Abendsonne. Die «Baugruppe» berät gerade über den Prototyp für die Wohnhäuser, die auf der grünen Wiese entstehen sollen. Welche Fenster werden verbaut? Können auch die Wohnungen im ersten Stock barrierefrei und trotzdem bezahlbar werden?

«Es geht darum, dieses Haus mit jeder Schelle, jedem Nagel und jeder Dachrinne einmal durchzukalkulieren», erklärt der Hamburger Architekt Frank Gutzeit der Runde. Ein wichtiger Prozess, denn alle Häuser sollen nach diesem Vorbild errichtet werden. Insgesamt sind 100 Wohneinheiten für 300 Menschen geplant. Die Genossenschaft zählt derzeit schon 80 Mitglieder, 100 weitere stehen auf der Interessentenliste.

Und alle dürfen mitreden. Was hier wie gebaut wird, entscheiden die Mitglieder der Genossenschaft gemeinsam. Erst in Arbeitsgruppen, später im großen Plenum. Für den Architekten eine echte Herausforderung: «Die Planung ist deutlich aufwendiger als bei einem Mietwohnungsbau», sagt er. «Aber es ist die Mühe wert! Wir finden neue Wege des Bauens und stellen die Nutzer mehr in den Vordergrund.»

 

4,90 Euro kalt pro Quadratmeter

Die vielleicht größte Herausforderung dabei: Manche dieser Nutzer_innen haben kaum Geld, sollen sich aber trotzdem eine Wohnung im Dorf leisten können. 4,90 Euro kalt pro Quadratmeter soll die Miete später höchstens kosten, das ist der Plan. Für Hartz-IV-Empfänger_innen und Asylwerber_innen würde das Amt die Zahlung übernehmen.

Aber die Baustoffe sollen nachhaltig und regional sein, was die Baupreise nach oben treibt. «Wir müssen einen Großteil in Eigenleistung machen, um anderen zu ermöglichen, hier zu wohnen», sagt Sonja aus dem Genossenschaftsvorstand. Ein Drahtseilakt.

Neben den Baukosten gibt es eine weitere finanzielle Barriere: Mindestens 13.500 Euro muss jede_r als Einlage zahlen, die_der in Hitzackers neuen Ortsteil ziehen will. Grundstück, Stromleitungen, Wegebefestigungen: Das kostet Geld. «Ich kann es mir nicht leisten, ohne Unterstützung in das Projekt zu ziehen», sagt die 34-jährige Mara Stöckemann.

Die alleinerziehende Mutter lebt nach ihrer erfolgreich abgeschlossenen Krebstherapie von Hartz IV und will unbedingt aus ihrer anonymen Hausgemeinschaft heraus. «Hier ist ein Haufen Leute, die uns das ermöglichen wollen», sagt sie. «Die haben verdammt viel Kraft.» Und manche haben genug Geld, um es in einen Solidaritätsfonds einzuzahlen, damit auch Menschen wie Mara hier wohnen können. Rund 88.000 Euro sind dafür schon zusammengekommen.

Auch Omid Kuhestani wird davon profitieren. Der 23-jährige Afghane landete 2010 auf der Flucht vor den Taliban nebenan in Dannenberg. Inzwischen hat er in Hamburg Maurer gelernt und kann es kaum erwarten, in Hitzacker mit anzupacken. «Man kann einfach mitmachen und seine Ideen einbringen», freut er sich.

Zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern will er hier mal wohnen. «Wir bauen jetzt das Dorf, und danach geht es mit Abi und Studieren weiter», sagt er mit fester Stimme. Wie sein Vater will er mal Architekt werden, das Praktikum bei Frank Gutzeit hat er schon in der Tasche.

Später sitzt Omid zusammen mit Sonja, Frank, Mara und 30 anderen Genoss_innen in der großen Plenumsrunde. In diesem Kreis sind schon viele beeindruckende Pläne ausgeheckt worden, seit die Idee zum interkulturellen Mehrgenerationendorf vor einem Jahr entstand. Der Zeitplan ist ambitioniert: Im Juli 2017 soll das erste Haus bezugsfertig sein, bis Ende 2018 soll der Rest folgen. Gibt es überhaupt Zweifel daran, dass sie ihre Europa-Vision in Hitzacker wirklich umsetzen werden? «Keineswegs», sagt Sonja.

Mit freundlicher Genehmigung von Hinz&Kunzt / INSP.ngo

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