Am Küchentisch (17. Teil)
Kennen Sie das? Sie schreiben einander Mails, vorerst kurze höfliche Mails, im Laufe der schriftlichen Begegnung dann auch längere Mails über einen Zeitraum von Wochen oder Monaten, und das Bild von der Person, die sie noch nie gesehen haben, zeichnet sich wie von selbst in ihrem unruhigen Geist.
Der Strich wird kräftiger, dicker, dünnt aber auch wieder aus, who knows, schmiert da irgendwas hin, was eigentlich nicht hingehört, zeichnet und zeichnet drauf los wie ein Autopilot, aus dem Innernen der Fantasien und Projektionen. Gedachtes explodiert zu Geschriebenem. Tatsache. Das Vorstellungsgekraxel hält der Realität niemals stand. Niemals.
Ich befand mich auf dem kleinen Platz hinter dem Stephansdom, dort auf den Stiegen neben den Fiakern und ihren weißschäumenden Pferden bei dieser Hitze Anfang August. Ich wartete wie vereinbart auf Julie, bin angespannt, ja, bin aufgeregt. Schwarz gekleidet schrieb sie mir, und weiße Schlapfen, Slippers, da las ich im Englischlexikon nochmals nach, um sicherzugehen. Julie hat mich angeschrieben vor einiger Zeit über das Netzwerk World Wide Women. Ich trat diesem bei, in der (bis jetzt unerfüllt gebliebenen) Vermutung, doch wieder einmal genug Zeit und Geld zu haben, um auf Reisen gehen zu können und auf mir unbekanntem Terrain touristische Wege zu verlassen, um mit dort lebenden Frauen vertraut zu werden, ihre Geschichten zu hören, ihren Zugang zu sich und der Welt in der sie verankert sind oder möglicherweise auch nicht sind. Fremde in der Fremde sind Verbündete. Julie leitet eine PR-Organisation mit mehreren Angestellten, ihr Profil sagt mir, sie spricht Englisch, Spanisch und Französisch. Nachdem sie auf ihrem Foto schwarze Haare, schwarze Augen hat, denke ich mir in meiner Einfalt, sie könnte eine Mittelamerikanerin spanischer Herkunft sein. Wie schnell und simpel doch der Geist ist. Da ist sie. Klein, zart und weiblich viril agil erscheint sie auf dem Platz, eine Suchende.
«Its a shame for Austria, the ensemble isnt good»
Hi Julie, sage ich, und wir sind mitten drin, und unsere Geschichten verstricken sich. Als ob wir uns ewig kennen. Kein Gefühl der Fremdheit, nein, empathische Offenheit. So als ob wir keine Vorgeschichte nötig hätten miteinander. Ich sage, wir gehen ins Kleine Café, da saß ich schon in meiner Jugend dauernd, bei Plaudereien. Dort erzähle ich ihr von meiner Jugendzeit in New York. Ich wäre gerne dort geblieben. Im Kleinen Café ist man wienerisch unhöflich. Julie schenkt diesem Umstand keine Aufmerksamkeit. Wie weise von ihr. Ich mag ihre klaren präzisen Formulierungen, ihren schnellen Intellekt und ihren sympathischen Witz. Nach einem schnellen Soda-Zitron verlassen wir diesen quasi geschichtsträchtigen Ort, und auf dem Weg zur Annakirche, wo ein seltsames Touristen-Streichquartett um verlorene 29 Euro Eintritt Mozart spielen wird, reden wir über Wien und seinen Menschenschlag. In Wien wird im Sommer Mozart ausgeschlachtet und zerfetzt mit stumpfen Messern, und mit schlecht präpariertem Werkzeug geht man ans Werk. Das tut weh. «Its a shame for Austria, the ensemble isnt good», runzelt Julie die Stirn und erzählt weiter von einem Abend im Musikverein, wo Musiker_innen im Mozart-Look aufspielen müssen. Wir sind desillusioniert. Die Mozart-Reproduktionsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Warum wehren sich nur so wenige Menschen, warum wird denn Handlungspotenzial so jämmerlich unterminiert in vielen Dingen? Da sind wir mittendrin im Historischen, nein, eigentlich im Aktuellen, genau hier und jetzt mit dir zusammen im Inneren Wien, Julie und Jella. Ja, das mache ihr große Angst, die politischen Entwicklungen in Österreich, sie ist Jüdin, ihre Großeltern stammen aus Wien, Krakau, Litauen und wanderten Anfang des 20. Jahrhunderts nach New York aus. Ich merke, dass mein Körper entspannt bleibt während ihrer Erzählung über ihre Herkunft, ihre Wurzeln, dass das höllisch geerbte Schuldgefühl meines Vaters als Nazi nicht mehr auf meinen Schultern sitzt, nein, das nicht, aber hin und wieder sticht mich was am großen Zeh. Und ich möchte es laut hinausschreien können, dass Österreich es verabsäumt hat tief in Schuld, in Scham und in Trauer hinabzusteigen. Das hinterlässt Spuren. In Anbetracht der billigen Darbietung verlassen wir die Annakirche schleunigst und gehen die Kärntner Straße zum Karlsplatz, vorbei am Wien Museum, an den gerechten Ort der Erinnerungen (Achtung! Ausstellung «Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens» von 6. September bis 13. Januar 2013).
Julie holt ihren Koffer aus dem Hotel, ich warte unten an der Rezeption und stelle mir vor, wie wir in der Flughafenhalle stehen werden, unsere Blicke unruhig wandernd, suchend, prüfend. Wir sehen uns an. Ich glaube es kaum, ich spüre Schmerz, Abschied. Wir waren doch kaum mal zwei Stunden zusammen unterwegs. Ich will nicht, dass sie geht. Wir sind Verbündete. Ich krame nach meiner Kreditkarte, ein paar hundert Euro sind noch drauf. Ich stelle mich an den Schalter und kaufe mir ein One-Way-Ticket nach New York. Und ich freue mich verdammtnochmal sehr auf diese Reise. Vorwärts in die Vergangenheit!