Eine Pforte der Kunst im Stillstand-Grauvorstadt

Zwischen Großstadtgehabe und Isolation: Kaliningrad

Kaliningrad, das ehemalige Königsberg, zeigt sich grau an diesem Nachmittag. Doch durch die winterliche Farbpalette und die Atmosphäre des Stillstands blitzt ein

junges, ambitioniertes Kunstprojekt: Art Vorota, die Galerie im Sackheimer Tor. Marita Gasteiger besuchte die russische Exklave.

Foto: Dorian Jędrasiewicz

Grau ist die beherrschende Farbe im Baltikum zu dieser Jahreszeit – doch in Kaliningrad zeigt es sich in überraschender Vielfalt: das Blaugrau des Flusses Pregolja, das Dunkelgrau der sowjetischen Plattenbauten, das Hellgrau der neurussischen Prestige-Gebäude und das undefinierbare Wolkengrau des Himmels. Doch Kaliningrad ist mehr. Zwischen die Grautöne mischt sich das kräftige Rot einiger weniger erhaltener Backsteingebilde. Sie haben die britischen Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs überstanden: Mauerreste, Türme, auch Häuser. Knallbunte Leuchtreklamen versuchen an das Pulsieren russischer Metropolen wie St. Petersburg und Moskau anzuknüpfen – und scheitern kläglich. Kaliningrad, die lange unzugängliche russische Exklave zwischen Polen und Litauen, ist irgendwo hängen geblieben zwischen ihrem Status als aufstrebenden Universitätsstadt im 19. Jahrhundert und der Gegenwart. Zurück bleibt eine baufällige Stadt, die Großstadt sein möchte, aber doch ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Isolation nicht entkommen kann.

 

Monster oder Roboter?

Bis 1946 hieß die Stadt an der Ostsee noch Königsberg, das gesamte Kaliningrader Gebiet fiel nach dem Zweiten Weltkrieg an die Russische Sowjetrepublik. Die Stadt war zu dem Zeitpunkt weitgehend zerstört, in Folge der gezielten Russifizierungspolitik verlor sie auch ihre Diversität: Fast 80 Prozent der Einwohner_innen heute sind Russ_innen. Um eine sowjetische Musterstadt zu errichten, wurde die Exklave 1950 komplett abgeschottet und erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder für Tourist_innen geöffnet. Zeuge dieser Isolation ist das «Monster» oder das – um die korrekte Bezeichnung zu verwenden – «Haus der Sowjets». Es handelt sich dabei um ein durch und durch hässliches (spiegelt nicht die Meinung der Redaktion wider!), markantes Gebäude im Zentrum der Stadt. Der 1970 begonnene Bau des Gebäudes wurde nie beendet: Zunächst kam es zu Komplikationen mit dem instabilen Untergrund, später ging das Geld aus – obwohl bereits Parkettböden gelegt worden waren und die Angestellten teilweise sogar schon die Nummer ihres Büros mitgeteilt bekommen hatten. Die Innenausstattung blieb nicht lange erhalten: Gute Parkettböden erfreuten sich großer Beliebtheit. Heute genießen vor allem junge Kaliningrader_innen gern die Aussicht vom Dach des Gebäudes. Zwar ist es nicht erlaubt, es zu betreten, die Einsturzgefahr hält sich aber in Grenzen, und auch die Sicherheitsleute sind kein nennenswertes Hindernis.

 

Das Sackheimer Tor und Art Vorota

Nur zwei Kilometer davon entfernt – ebenfalls am zentralen Moskovskij Prospekt – befindet sich ein Ort, der die sowjetische Stadt konterkariert wie kein anderer: Es ist das Sackheimer Tor, eines jener Backsteingebäude, die einst zum inneren Befestigungsring der Stadt gehörten. Doch dort, wo im 19. Jahrhundert preußische Wachen standen, befindet sich heute ein einzigartiger, künstlerischer Freiraum.

Art Vorota, aus dem Englischen und Russischen frei übersetzt: Pforte der Kunst, nennt sich die Kunstplattform, die im Inneren des Gebäudes in erster Linie Raum bieten will. Raum für Kunst, Raum für Konzerte und Veranstaltungen, Raum für Co-Working. Das umfassende Konzept schützt das historische Gebäude gleichzeitig vor dem Verfall – denn der Bau an sich wurde nicht verändert, die Mauern im Inneren behielten ihr kräftiges Rot und fügen sich überraschend harmonisch in die moderne Innenarchitektur ein. Ein Kontrast, wie er Kaliningrad nicht besser verkörpern könnte: das Streben in Richtung Modernität und das gleichzeitige Festgehalten-Werden von den politischen Wirren der Zeit. Wer die kleine Galerie betritt, kommt zunächst an der Bar vorbei. Es wirkt gemütlich: dämmriges, leicht schummriges Licht, gemütliche Sitzgelegenheiten. Am Tresen wird neben klassischen Kaffeesorten auch Kaffee aus Sonnenblumenkernen (Chalva-Kaffee) angeboten. Die Atmosphäre erinnert eher an die hippen Bars in Vilnius oder Riga anstatt an das isolierte, in sich zusammenfallende Kaliningrad.

 

«Ausländischer Agent»

Die Galerie wird von einem siebenköpfigen Kollektiv betrieben, welches sich aus unabhängigen Kurator_innen zusammensetzt. Evgenij Makarkhin ist einer von ihnen. Der 28-Jährige genießt es sichtlich, seine Gäste herumzuführen. Er macht aber auch deutlich, dass Art Vorota so nicht mehr lange existieren kann: «Mit Kaffee allein können wir die Galerie nicht langfristig erhalten.» Öffentliche Beiträge gebe es keine. «Wir hatten einige Werbe-Kooperationen, und die Fenster beispielsweise haben wir über Crowdfunding finanziert», sagt Evgenij dazu. Finanzierungen aus dem Ausland sind nicht nur in Kaliningrad, sondern in ganz Russland schon seit längerem schwierig: Wer Geld aus dem Ausland erhält, muss sich als «ausländischer Agent» eintragen lassen – eine Schikane, gegen die sich zahlreiche russische NGOs bisher vergeblich gewehrt haben. Russland hat kein Interesse daran, Aktivismus von unten zu fördern.

Zum Zeitpunkt meines Besuches läuft im Art Vorota eine Ausstellung des Fotografen Stanislav Pokrovskij unter dem Titel «Die Höhe der 70er». Beeindruckende Bilder vom Kaliningrad der 70er Jahre sind ausgestellt, liebevolle Details, harmonische Kompositionen, aber auch die Fotos großer Konzerte. Der Fotograf selbst erzählt die Geschichten hinter den Bildern. Auf die Frage, ob es seine Bilder auch als Postkarten gebe, schenkt er allen Anwesenden eine davon. Sie zeigt ein Denkmal in Kaliningrad. «Das ist aber die einzige.» Pokrovskij, das stellt sich bald heraus, ist nicht einfach irgendwer. Er ist Mitglied der russischen Fotograf_innen-Vereinigung und Träger zahlreicher Auszeichnungen und Preise. Er lehrt außerdem an der Kaliningrader Schule für Fotografie. Ziel von Art Vorota ist es, «ein kreatives Netzwerk von Künstlern und kreativen Gruppen in Kaliningrad aufzubauen», so beschreibt es der junge Kurator. Viele Menschen verstünden nicht, warum Kunst und Kreativität derart wichtig seien und was sie alles bewirken könnten. Hier setzt Art Vorota an, im Kleinen natürlich, denn so großartig das Projekt auch klingt, es kann die Stadt nicht aus der Isolation befreien. Aber es kann zum Nachdenken anregen – auch nach dem Besuch. Ein Schritt …

 

Kälte, graue Isolation

Kaliningrad ist Kontrast, ist Absurdität – und die Selbstverständlichkeit, wie damit umgegangen wird, ist beeindruckend. 2018 sollen einige Spiele der Männer-Fußball-Weltmeisterschaft hier stattfinden. Bereits 2017 soll auf der Oktober-Insel in der Pregolja das neue Fußballstadion eröffnet werden. 45.000 Personen wird es fassen, mitten in einer in sich zusammenfallenden Stadt. Nach den Olympischen Winterspielen von 2014 in Soči ist die Fußball-WM das zweite große Sportereignis dieses Jahrzehnts in Russland. Und genau wie dieses steht es in der Kritik: Nicht nur wegen der prekären Menschenrechtslage in Russland, sondern auch aufgrund der schwierigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Lage der Stadt. Langfristig wird sie kaum davon profitieren.

Obwohl der Kaliningrader Winter noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht hat, ist es kalt. Die Temperaturen bewegen sich zwar gar nicht so weit unter dem Gefrierpunkt, die Stadt liegt am Meer. Es sind die Feuchtigkeit und der Wind, die einen jeden Minusgrad noch stärker spüren lassen. Mitte Dezember hat der Tag hier gerade einmal sieben Stunden. Zum Vergleich: In Wien sind es im selben Zeitraum immer noch fast achteinhalb. Jetzt, wenn es finster ist, überstrahlen die Leuchtreklamen die baufälligen Gebäude. Niemand scheint zu sehen, dass das einst prächtige rote Schild der Zentrale der Kommunistischen Partei allmählich von der Wand bröckelt – oder es interessiert niemanden –, während gegenüber das fast glänzend polierte Weiß der örtlichen Administration selbst im Dunkeln unübersehbar bleibt.

Die Autorin studiert im Master Interdisziplinäre Osteuropastudien an der Universität Wien und absolviert aktuell ein Auslandssemester an der Universität Vilnius.

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