Über die Krise der Politik in Sachen Refugees – ein Zwischenstand
Die Zeit scheint zu galoppieren. Jeden Tag gilt ein anderes Kommando: Ungarn macht die Grenzen zu, Österreich macht sie auf, Österreich macht sie zu, Kroatien macht sie auf, Bayern macht sie zu, Slowenien macht sie auf, Kroatien macht sie zu – man bekommt ja schon vom Nachrichtenhören Kopfweh. Wie geht es also erst denen, die vorm Krieg geflüchtet auf ihre Weiterreise warten, irgendwo unter freiem Himmel in diesem herzlosen, bürokratischen und doch chaotischen Europa? Bálint Misetics, Wissenschaftler und Aktivist der Budapester Initiative «Die Stadt gehört allen», spricht von der Selbstorganisation der Refugees, vom Helfen, von der Krise und von der Abwesenheit des Staates.
Foto: Mischtu Rössler
Kannst Du beschreiben, was in den letzten Wochen am Keleti-Bahnhof in Budapest passiert ist?
Bálint Misetics: Die Situation ändert sich alle paar Tage. Zuerst standen hunderte Polizisten vor den Bahnhofseingängen und haben die Refugees nicht reingelassen. Das war, glaube ich, eine der sichtbarsten Anwendungen von «racial profiling», die ich jemals in Ungarn erlebt habe. Sie haben von allen, deren Hautfarbe nicht weiß genug war, die Ausweise verlangt. Die Atmosphäre war sehr angespannt und einschüchternd. Hunderte Menschen sind in der sogenannten Transitzone außerhalb des Bahnhofs gelegen, Kinder gingen umher, Polizisten haben herumgeschrien – sehr verstörende Szenen. Alle paar Stunden haben die Leute um den Haupteingang des Bahnhofs zu protestieren begonnen. Sie haben Lieder vor allem in Arabisch, aber auch in Englisch gesungen, über Deutschland, über die Freiheit und wie sehr sie von hier weg wollten.
Dann fand am 4. September der «March of Hope» Richtung österreichischer Grenze statt. Ich denke, das war eine extrem befreiende Erfahrung, vor allem im Vergleich zu dem Warten, der Spannung, diesem Zusammengedrängtsein und der repressiven Polizeipräsenz am Keleti. Das war ein exzellentes Beispiel für das, wovon Martin Luther King und andere Vertreter_innen des gewaltfreien Widerstandes gesprochen haben: Wenn du in einer sehr angespannten Situation bist, brauchst du ein gewaltfreies Ventil für diese Spannung, und ich glaube, darum ging es bei diesem Marsch. Und er hat auch eine Krise produziert, die die ungarische, aber auch die österreichische und die deutsche Regierung zum Handeln gezwungen hat. Ich weiß nicht, inwieweit das ein Ergebnis des Marsches selbst war und was diplomatische Geheimverhandlungen dazu beigetragen haben, aber so oder so hat Österreich an diesem Tag die Grenzen geöffnet, sodass die Refugees durch Österreich Richtung Deutschland reisen konnten. Zuerst bestand große Angst, dass das nur ein oder zwei Tage anhalten würde, aber dann ging es tagelang so und hat die Situation völlig verändert.
Die echte Krise fand dann in Röszke statt, an der serbischen Grenze, wo die Refugees registriert wurden. Das Registrierungszentrum selbst war überlaufen, und Hunderte, manchmal auch Tausende waren gezwungen, draußen vor dem Zentrum in den angrenzenden Feldern zu warten. Die Nächte waren nicht mehr warm, und da waren hunderte Familien, oft mit ihren Kindern und kleinen Babys, unter freiem Himmel. Viele Freiwillige waren gekommen, um Zelte, Decken und Schlafsäcke zu bringen. Aber wenn du ein Problem von diesem Ausmaß hast, tausende Menschen, die bei vier Grad auf den Feldern schlafen, dann ist das nichts mehr, was du mit ein paar Decken lösen kannst. Man bräuchte ganz offensichtlich einen Notfallplan des ungarischen Staates, und wenn der Staat noch länger inaktiv bleibt, dann eben UNHCR oder UNICEF oder andere große Organisationen, aber nichts davon ist geschehen.
Unterstützung kommt vor allem von Freiwilligen.
All diese freiwilligen Initiativen, die für Lebensmittel, Medikamente und so weiter gesorgt haben, waren wunderbar und auf eine Art wirklich held_innenhaft, aber das spiegelt halt wider, wie der Staat mit der Sache umgeht: Wenn du Held_innen brauchst, damit kleine Kinder ihre medizinische Grundversorgung bekommen. Und ich glaube, eines der Probleme mit den freiwilligen Initiativen ist, dass bei all dem Enthusiasmus darüber, wie hilfsbereit sie waren – und das waren sie –, die wichtigste Message untergeht, nämlich dass der ungarische Staat seine grundlegenden humanitären Pflichten nicht erfüllt, die einerseits moralischer Natur sind, aber andererseits auch in internationalen Verträgen gesichert.
Man hört viel über Solidarität und Mitgefühl der Menschen in Ungarn, ebenso wie in Österreich und Deutschland. Hat es gleichzeitig auch Angriffe auf Refugees gegeben?
Das Mitgefühl der Leute in Ungarn ist total sichtbar und steht in auffallendem Gegensatz zu der gehässigen Fremdenfeindlichkeit und dem kleingeistigen politischen Taktieren der Regierung. Aber wenn man dann wieder Umfrageergebnisse anschaut, sieht man, dass die Mehrheit, und zwar auch die relative Mehrheit jener Oppositionsparteien, die eine Pro-Refugee-Haltung einnehmen, meinen, dass Refugees eine Bedrohung für Ungarn darstellen. Es gibt auch sehr viele Übergriffe. Freiwillige, die Essen bringen, werden regelmäßig von der lokalen Bevölkerung verbal angegriffen, und es gab ein paar Attacken von rechtsradikalen Gruppen am Keleti-Bahnhof.
Wie auch immer ist die Öffentlichkeit polarisiert. Die Sache begann im Frühsommer, als die Regierung Plakate aufhängen ließ, die sich (auf Ungarisch!) an sogenannte Migrant_innen richteten, da stand drauf: Wenn du nach Ungarn kommst, musst du unsere Kultur respektieren, darfst den Ungar_innen die Arbeit nicht wegnehmen, und so weiter. Daraufhin gab es interessanter Weise einen Anstieg an direkten Aktionen und zivilem Ungehorsam. Und das waren durchaus nicht nur aktivistische Kreise, sondern auch ganz normale Leute, die diese Poster runtergerissen oder sie überschmiert haben. Ich denke, was passiert, – und das ist etwas, was wir auch bei der Anti-Obdachlosen-Propaganda vor ein paar Jahren gesehen haben – ist, dass die Regierung immer einen Sündenbock braucht. Diesmal sind es die Refugees. Aber was die Regierung macht, ist so offensichtlich unmenschlich, dass sich viele ermutigt fühlen, zu helfen oder jedenfalls mit den Refugees zu sympathisieren, weil die gegenteilige Position einfach moralisch untragbar wird.
Also denkst du, dass diese Krise eine Kluft zwischen Regierung und Wähler_innen aufmacht?
Das halte ich für eine zu optimistische Annahme. Ich könnte es nicht mit Zahlen belegen, aber ich glaube, dass es ein gewisses Segment der Gesellschaft ist, das da mobilisiert wird, nicht nur durch die Krise, sondern auch, weil sie die damit einhergehende Regierungspropaganda skandalös finden. Aber auf der andern Seite gibt es die, die ihre Informationen hauptsächlich aus der Welt staatlicher Medien und von der Regierung kontrollierter Kanäle beziehen, und da wird ein völlig anderes Bild vermittelt. Der ungarische Staat ist interessant, weil bestimmte Bestandteile immer noch so funktionieren, wie sie in einem demokratischen Setting funktionieren sollten, in dem der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gilt, und dann gibt es andere Elemente, die völlig diktatorisch sind. Die staatlichen Medien sind ein Beispiel für Letzteres.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat verpflichtende Refugee-Quoten für alle EU-Länder gefordert. Wie wird das die Situation in Ungarn beeinflussen?
Ich möchte eines betonen: In weiten Teilen der Berichterstattung geht es darum, wie schlecht oder unmenschlich die ungarische Regierung ist und dass wir Zeug_innen davon sind, wie ein «europäischer» Staat eben nicht mit einer humanitären Krise umgehen sollte. Das ist Unsinn. Es stimmt, dass die ungarische Regierung nicht nur ihre humanitären Verpflichtungen missachtet, sondern darüber hinaus absichtlich Hass streut, einen Stacheldrahtzaun baut, um Asylsuchende fernzuhalten und zu verletzen, und Strafgesetze innerhalb des Asylrechts verabschiedet. Aber letztendlich ist die Flüchtlingspolitik auf EU-Ebene ein moralischer Wahnsinn. Es gibt eine ganz schöne Doppelbödigkeit in der Kritik westeuropäischer Regierungen am ungarischen Staat, weil er ein leichtes Ziel ist. Ich denke, dass jede Bemühung, die Dublin-Regulierung in ein gleichberechtigtes System zu verwandeln, herzlich willkommen wäre.
Aber ich möchte auch hinzufügen, dass wir entgegen all diesem irreführenden Gerede von der Last der Refugees in Europa mal realisieren sollten, dass die meisten syrischen Refugees nie nach Europa kommen werden, sondern im Libanon, in Jordanien und der Türkei sind. Wir sollten diese «Last» in Relation setzen und darüber nachdenken, wie die EU diese Länder mit einem weit geringeren Haushaltseinkommen und viel mehr aufgenommenen Refugees unterstützen kann. Die Antwort auf die Refugeefrage sollte nicht nur europäisiert, sondern überhaupt mehr internationalisiert werden.
Bálint Misetics ist aktiv bei der Budapester Initiative «Die Stadt gehört allen», die sich vor allem der Organisierung von Obdachlosen widmet, und wird im Dezember auf Einladung des Augustin in Wien mit uns diskutieren.
Das Interview erschien in voller Länge in «Political Critique. Central and Eastern European Magazine of Politics and Culture», Übertragung ins Deutsche: Lisa Bolyos