Eine Stadt und ihre Gerüchevorstadt

Immer der Nase nach (I. Teil)

Wie stark Gerüche unsere Wahrnehmung prägen, erörtert die Kulturwissenschaftlerin Stephanie Weismann in mehreren Folgen. Als Auftakt der Kurzserie eine Einführung zum Thema.

Geht man der Nase nach, kennt man an Wien die vertrauten Schokolade-Schwaden der Manner-Fabrik, die sich je nach Wind- und Wetterverhältnissen gerne mit dem herben Hopfengeruch der Ottakringer Brauerei verbinden. Wenn im Prater wieder die Bäume blühen, atmet man nicht nur frischen Rasenschnitt, sondern auch den Geruch von Zuckerwatte, Cannabis und warmen Hunds­trümmerln. Auch innenstädtisch riecht es keineswegs nach Sacher-Torte und habsburgischem Barock, sondern recht profan nach Würstelstand oder beißend nach Pferdeurin. Im Sommer mischt sich zudem noch der heiße Asphalt der offenen Straße mit den Ausdünstungen alter Gemäuer in schattigen Gassenwinkeln. Geht man der Nase nach, eröffnet einer_m jede Stadt die vielfältigsten Geruchslandschaften. Sie erzählen von ihren unterschiedlichen Bewohner_innen, von Umweltproblemen und Essensvorlieben, von Jahreszeiten und Bausubstanz, von Wirtschaftsfaktoren und topographischen Besonderheiten. Jede Stadt hat ihre eigene Duftnote, jeder Bezirk, jedes Stiegenhaus, jede Wohnung, jedes Zimmer seine eigene kleine Geruchsidentität – die wir einatmen, derer wir uns aber meistens nicht bewusst sind.

Das Ende vom «Great Stink». Unser Geruchssinn spielt eine wichtige, im Alltag aber weitgehend unterschätzte Rolle. Weil er stark mit dem Unbewussten und Emotionen verbunden ist, wurde er seit der Antike als affektiv-animalisch abgewertet. Ein feiner Geruchssinn gilt als gefühlsnah, intuitiv und naturverbunden – und blieb übrigens lange Zeit ein maßgebliches Diagnosewerkzeug von Ärzt_innen und Heiler_innen. Der Geruchssinn spielte auch eine wesentliche Rolle für Sozialreformer_innen und Stadtplaner_innen – diese schnüffelten nach den Ausdünstungen von Armut und Rückständigkeit, welche aus der zukünftigen Gesellschaft und in modernen Städten eliminiert werden sollten. Besonders «organische» Gerüche – wie Fäkalien, Haushaltsabfälle, Abfälle aus der Fleisch- und Lederindustrie – sollten aus der urbanen Geruchslandschaft verbannt werden. Im Zuge einer europaweiten «Fäkal-Krise» Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in europäischen Großstädten wie Paris und London große Sanitärprojekte in die Wege geleitet, um Phänomene wie «The Great Stink» (als die Themse beziehungsweise die Seine im Zuge eines besonders heißen und wasserarmen Sommers einem dampfenden Fäkalmorast glichen) der Vergangenheit zuzählen zu können. Grundlegende Deodorisierungsprojekte – unter anderem die Einführung von Kanalisationssystemen und damit die Verbannung von Abwässern und Körperausscheidungen unter die Erde – waren Vorzeigeprojekte der Moderne. Mit der zunehmenden Purifizierung von Straßen, Wohnstätten und der Einführung des Wasserklosetts hielt ein neuer Sinn für Körperhygiene Einzug in den Alltag der Stadtbevölkerung, was sich auch in der steigenden Zahl der Badezimmer äußerte. Mit dem gesteigerten Bewusstsein wurde gleichzeitig die Toleranzgrenze für «schlechte» Gerüche maßgeblich verringert. Als man begann, aufgeklärt die Nase zu rümpfen, wurde die Geruchslosigkeit, die «olfaktorische Stille» zum Ideal der Moderne.

Deo und Moral. Was an sich nach einer rühmlichen Entwicklung klingt – wer freut sich nicht über weniger Gestank und mehr Wohlgerüche im täglichen Leben – hat jedoch seine Schattenseiten. Gerade der Prozess der Deodorisierung war eng verbunden mit einer moralischen Reform. Mit dem Wunsch nach Entlüftung ging auch eine zunehmende Geruchskontrolle und gesellschaftliche «Bereinigung» einher. Hygiene-Kampagnen und «Gestanks»-Verbote gehören seitdem zu unserem Alltag – wenn man etwa an das aktuelle Verbot des Verzehrs geruchsintensiver Speisen in öffentlichen Verkehrsmitteln in Wien denkt. Der Aufruf zu mehr (Körper-)Hygiene und frischerer Luft noch im 19. Jahrhundert zielte eben nicht nur auf individuelles Wohlbefinden und kollektive Gesundheit, sondern war Teil bewusst betriebener Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen «von oben». Wer streng riecht, gehört nicht dazu.
Stadtplaner_innen und Politiker_innen beschäftigen sich bis heute nicht nur mit dem Ausbau von Grünflächen und der Eindämmung von Smog, sondern bekämpfen diverse Geruchsquellen mit Verboten und Strafen. «Nimm ein Sackerl für mein Gackerl» war dabei noch die erfreulichste Entwicklung, es folgte das Essverbot in der U-Bahn, auch Alkoholverbote im öffentlichen Raum (wie etwa am Praterstern) dämmen gewiss unter anderem die Aura der Verwahrlosung ein, vor allem sind diese Maßnahmen jedoch als eine Form der Sozialdisziplinierung zu verstehen – unproduktives Herumlungern unerwünscht. Natürlich freut sich niemand über die Leberkässemmerl-Ausdünstungen seines Sitznachbarn in der U-Bahn, genauso wenig aber mag man abgestandenen Morgenatem, grenzwertig ist auch das Aroma von Energydrinks, der Geruch von nassem Hundefell und das Odeur von Achselschweiß im Sommer – dennoch: Was als angenehm oder unangenehm empfunden wird, variiert individuell sehr stark, insofern sind Verbote mit Vorsicht zu genießen.

Geruchslosigkeit als oberstes Ziel? Die Sinne im Allgemeinen und der Geruchssinn im Speziellen verfügen über eine stark polarisierende, aber auch integrative Kraft innerhalb von Gesellschaften – oft hat man einfach «die Nase voll». Geruchlosigkeit gilt als Marker für Ordnung, jedoch ist die Stilllegung von Gerüchen eine zweifelhafte Errungenschaft und im Alltag nicht durchführbar. Die Regulierung von Gerüchen im öffentlichen Raum (Rauchverbot, Alkoholverbot, Essverbot) soll an grundlegende Rücksichtnahme appellieren, wo es aber nicht mehr «menscheln» darf, ist Vorsicht geboten. Eine geruchsneutrale Welt ist illusorisch, künstliche Aromatisierung eine zweifelhafte Errungenschaft. Städte sind stark durch Gerüche geprägt, diese verleihen einer Stadt auch ihren Charakter. Die Vielfalt unserer täglichen Geruchsbegegnungen bleibt jedoch oft unbemerkt beziehungsweise wenig wertgeschätzt, vieles «stinkt uns» schlichtweg.
«Immer der Nase nach» ist auch ein Aufruf dazu, seine Nase wieder bewusster einzusetzen: Welche Geruchslandschaften begleiten Sie auf den Weg zur Arbeit? Welche Gerüche prägen Ihr Grätzl? Worüber rümpfen Sie die Nase? Wann atmen Sie so richtig tief ein? Was macht das Aroma Wiens aus? 

Die Autorin arbeitet am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien zu einer Geruchsgeschichte Ostmitteleuropas am Beispiel der polnischen Stadt Lublin. Sie geht der Frage nach, wie man das 20. Jahrhundert anhand seiner sich verändernden Geruchslandschaften erzählen kann. Derzeit forscht sie in Polen zu Geruchswahrnehmungen der Wendejahre zwischen OMO-Waschmittel und Braunkohle, Corned Beef und Rasierwasser «Old Spice». Mehr zum Projekt: www.facebook.com/lublinsmellscapes
Der zweite Teil (in AUGUSTIN Nr. 484) befasst sich mit: «Ich kann dich nicht riechen»: Gerüche zwischen Anziehung und Abstoßung

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