«Eine Therapie ohne Absicht»tun & lassen

20 Jahre Trialog in Wien – ein Gespräch mit dem Festredner

Seit 20 Jahren treffen sich regelmäßig Menschen mit Psychiatrieerfahrung, deren Angehörige und Profis im Wiener Polycollege. Eingeladen zur Jubiläumstagung am 9. November war auch der Hamburger ­Psychologe Thomas Bock. Im Gespräch erzählte er Dagmar Weidinger, warum es alle drei Gruppen braucht, um Veränderung zu schaffen.

Foto: privat

Wie beurteilen Sie die Entwicklung trialogischer Initiativen in Deutschland und Österreich?

Meine Expertise bezieht sich hauptsächlich auf Deutschland. Hier sehe ich regional große Unterschiede in der Umsetzung. Neben Hamburg, wo ich arbeite, gibt es etwa in Berlin, Leipzig, aber auch in München starke Trialog- und Anti-Stigma-Bewegungen, Psychose-Seminare gibt es aber an mindestens 100 Orten. In Österreich gibt es viele spannende Ansätze; von außen habe ich jedoch die Befürchtung, dass die Freiräume durch die Veränderung der politischen Lage eher kleiner als größer werden.

Gibt es – abgesehen von regionalen Zentren – einen bundesweiten Trend in Deutschland?

Ja, und hier bin ich auch sehr optimistisch, dass wir auf einem guten Weg sind. Die Idee des Trialogs mobilisiert viele. So gibt es schon lange gemeinsame Kongresse, Fortbildungen, Veröffentlichungen und erste Fachgesellschaften, etwa Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen, DGBS, und Netzwerk Stimmenhören, NeSt, die trialogisch organisiert sind. Auf gemeinsamen Druck hin wurde vor wenigen Jahren entschieden, dass ­Psychosen-Psychotherapie eine Pflichtleistung der Kassen wird. Die Aufmerksamkeit für psychosoziale Therapien und auch für ­Genesungsbegleitung durch Peers ist enorm gestiegen. Die Soziale Psychiatrie boomt – auch weil es eine starke Desillusionierung im Bereich biologischer Therapien gab und gibt.

Was genau meinen Sie mit « Desillusionierung bei biologischen Therapien»?

Die Hoffnung auf völlig nebenwirkungsfreie Medikamente ist gescheitert. Die Ergebnisse rein medikamentöser Therapie sind bescheiden. Rein biologische Erklärungen greifen zu kurz und verstärken das Risiko von Selbst- und Fremdstigmatisierung.

Welche konkreten Fortschritte hat die Soziale Psychiatrie in den letzten Jahren in Deutschland gemacht?

Eine bahnbrechende Neuerung ist die Einführung des «Home treatments» ab Jänner 2018, ein Schritt, der übrigens nur aufgrund des gemeinsamen Protests gegen Kliniken gelang, die sich nur als «Bettenburgen» verstanden. Vor allem der Druck der Angehörigen war wichtig, um deutlich zu machen, dass wir auch aufsuchende Hilfen brauchen. Im Fachjargon nennt sich das «stationsäquivalente Behandlung». Konkret ist damit eine dem Psychiatrie-Aufenthalt gleichwertige Behandlung im eigenen Lebensumfeld gemeint. In dem Zusammenhang finde ich es ganz wichtig, auch Genesungsbegleiter, also ehemals Betroffene, miteinzubeziehen. Ihnen die Tür zu öffnen wird manchem ängstlichen Patienten leichter fallen. Und ihre Begleitung stärkt nachweislich Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen – vermutlich die wichtigsten Faktoren der Genesung.

Die Arbeit mit «Peers», also Personen mit Psychiatrieerfahrung, ist mittlerweile auch in Österreich angelangt, nicht flächendeckend, aber der Verein Ex-In beschäftigt bereits 32 Personen als Genesungsbegleiter_innen. Ist es nicht ein bisschen viel verlangt, von ehemals Betroffenen, wenn sie nun die Psychiatrie quasi von innen umkrempeln sollen?

Sie sprechen damit ein ganz großes Risiko der Peer-Arbeit an. Peers sind dazu da, anderen Betroffenen Hoffnung zu geben und wie Übersetzer zwischen den einzelnen Gruppen zu vermitteln. Es ist nicht ihre Aufgabe, das System Psychiatrie zu verändern. Eine Veränderung kann nur gemeinschaftlich passieren, wobei die Mediziner hier wirklich in die Verantwortung genommen werden müssen. Fakt ist jedoch, dass wir die Betroffenen und Angehörigen brauchen, um Veränderungen zu erzielen, denn nur so werden wir zur kritischen Masse. Wenn die Politik versteht, dass fast jeder ihrer Wähler potenzieller Betroffener, Angehöriger oder beides ist, sodass eine gute Psychiatrie zu einem kulturellen Anliegen wird, entsteht Druck. Die Gruppe der Psychiater ist ja verhältnismäßig klein.

Was ist mit den Kosten für das «Home Treatment» – sind Sie hier nicht häufig mit dem politischen Argument der Nicht-Finanzierbarkeit konfrontiert?

Die Finanzierbarkeit ist ganz sicher nicht das Hauptthema. Es geht vor allem darum, die Ressourcen so einzusetzen, dass Mobilität und Kontinuität belohnt werden. Wir sparen kein Geld damit, alle psychotischen Menschen, also Menschen, die in einem extrem dünnhäutigen und verletzlichen Zustand sind, zusammen in eine Station zu stecken – im Gegenteil, häufig eskalieren wir die Situation dadurch noch zusätzlich.

Sie sagen, für Veränderung braucht es alle drei Gruppen. Wie man hört, ist es aber leider – zumindest hier in Wien – schwierig, medizinisches Fachpersonal zu einer Teilnahme am Trialog zu motivieren. Woran könnte dies liegen, und was kann getan werden, um die trialogische Arbeit auch für diese Gruppe attraktiver zu machen?

Ich würde es für einen wesentlichen Schritt halten, den Trialog-Besuch zum Teil der Ausbildung von Medizinern und anderen Berufsgruppen zu machen. Die trialogischen Seminare können dabei durchaus verschieden sein. Für Psychologen haben wir in Hamburg ein eigenes Seminarmodell entwickelt – Klinische Psychologie im Dialog) – für Medizinstudenten ein spezielles Antistigma-Modul. Viele Studierende treffen in diesem Rahmen zum ersten Mal mit Betroffenen zusammen und sehen, wer die Menschen überhaupt sind, die sie zu behandeln lernen. Und sie lassen sich von deren Geschichten berühren. Das Geschichtenerzählen in einer wohlwollenden Umgebung kann übrigens bereits heilsam wirken. Der Trialog ist also Therapie ohne Absicht!

Könnte es nicht auch sein, dass Psychiater_innen fürchten, mit negativen Urteilen und schlechten Erfahrungen von Patient_innen überhäuft zu werden, wenn sie sich in den Trialog begeben?

Natürlich kann es passieren, dass Psychiater im Trialog mit Vorwürfen konfrontiert werden, die eigentlich nicht sie als Person meinen. Das kann dann sehr kränkend sein; man hat sich ja freiwillig auf einen Dialog eingelassen und wird dann zum Buh-Mann oder zur Buh-Frau gemacht. Ich muss allerdings sagen, dass ich derartige Situationen in Hamburg nicht mehr erlebe. Wir haben eine so lange Trialog-Kultur, dass in so einem Fall sicher ein Betroffener oder eine Angehörige aufstehen würde und sagen: Halt, so einseitig ist die Sache nicht. Ich habe auch positive Erfahrungen gemacht!

Sprechen wir zum Abschluss noch kurz über Ihr eben erst gemeinsam mit Andreas Heinz geschriebenes Buch «Psychosen. Ringen um Selbstverständlichkeit» – der zweite Band in der Schriftenreihe «Anthropologische Psychiatrie». Was verstehen Sie unter diesem für Ihre Arbeit sehr wesentlichen Begriff?

Ich sehe die anthropologische Psychiatrie als Gegenentwurf zur pathologisierenden Psychiatrie. Es geht mir darum, eine Sichtweise zu präsentieren, die auf Gemeinsamkeiten anstatt auf Trennendes fokussiert. Die aktuell leider noch weit verbreitete Vorgehensweise auf der Psychiatrie ist ja die Suche nach dem Anderen, dem Fremden, dem nicht Normalen. Die anthropologische ­Psychiatrie versucht das Verbindende und zutiefst Menschliche in den Blick zu nehmen. Dieses Konzept ist übrigens nicht völlig neu, sondern wurde bereits in den 1920er-Jahren zum Beispiel von Ludwig Binswanger in seiner Phänomenologie vertreten. Will die Psychiatrie neue Wege gehen, die Türen wirklich öffnen, braucht sie auch eine neue Haltung und Kultur, eine neue «Philosophie».

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