Eine ungeheure Gefahr für die MusikakademieArtistin

Unruhestifterin. Die Studentin Lilly Pollak war Anfang der 1930er-Jahre federführend bei Protesten
an der Akademie für Musik und darstellende Kunst – und wurde dafür vom Studium ausgeschlossen.
Das Forschungsprojekt Klingende Zeitgeschichte zeichnet Pollaks Lebensweg bis ins Exil nach.

Text: Eva Schörkhuber

Am 11. Juli 1931 berichtete die Arbeiter Zeitung von Protesten gegen das damals neu implementierte Musikakademiegesetz: Die Hörer_innenschaft der Akademie für Musik und darstellende Kunst setzte sich gegen eine unter der Leitung von Karl Wiener betriebene autoritäre Reform zur Wehr, die u. a. eine Erhöhung der Studiengebühren, eine Verlängerung der Studiendauer, eine Reduktion der Studierenden- und Lehrendenzahlen sowie die Abschaffung der Fachhochschule und des Reinhardt-Seminars vorsah. Erfolg hatte, so der Bericht, die Protestbewegung hinsichtlich eines ebenfalls neu installierten Kontrollprüfungssystems – heute würde eine sagen: Knock-out-Prüfungen. Dieses wurde zu Fall gebracht, wobei die Vorsitzende der sozialistischen Musikstudent_innen, Lilly Pollak, als Unruhestifterin kurzerhand von der Akademie ausgeschlossen wurde.

Autoritäre Tendenzen.

Bemerkenswert ist diese Protestbewegung an der Akademie für Musik und darstellende Kunst – eine der institutionellen Vorgängerinnen der heutigen mdw – Anfang der 1930er-Jahre aus mehreren Gründen: Zum Einen sind in der Akademiereform bereits jene autoritären Tendenzen zu erkennen, die in den darauffolgenden Jahren den austrofaschistischen Ständestaat prägen sowie die nationalsozialistische Herrschaft kennzeichnen werden. Zum Anderen ist der Grad der politischen Organisierung der Musikstudent_innen im Vergleich zu anderen Hochschulen äußerst gering: Aus dem Tätigkeitsbericht des «Verbandes Sozialistischer Studenten» von 1930 geht hervor, dass die 1929 gegründete Fachgruppe der Musikstudent_innen es binnen einen Jahres auf 60 Mitglieder gebracht habe, was «bei der bekannten reaktionären Einstellung der Musikstudenten und der schwierigen Propagandamöglichkeit (die Abhängigkeit der Studierenden von ihren reaktionären Lehrern sowie der völlige Mangel an Geldmitteln) als ein großer Erfolg zu werten» sei. «Die durch das teure Studium bedingte Notwendigkeit, noch vor beendeter Ausbildung auf Verdienstmöglichkeiten angewiesen zu sein», habe dazu geführt, «dass viele Musikstudenten ohne bei der zuständigen Gewerkschaft organisiert zu sein, Engagements zu ungünstigen Bedingungen annehmen müssen.» Bei den Vorstandswahlen des «Verbandes Sozialistischer Studenten» Anfang 1931 wird Lilly Pollak zur Vorsitzenden der Musiksektion gewählt. Sie ist zu diesem Zeitpunkt die einzige Frau an der Spitze einer sozialistischen studentischen Fachgruppe.

«In Erkenntnis der ungeheuren Gefahr».

Der Name Lilly Pollak taucht in den zahlreichen Berichten und Kommentaren zum Musikakademiegesetz von 1931 in den damals gängigen Tages- und Wochenzeitungen nur spärlich auf. In der Arbeiter Zeitung wird ihr Ausschluss von der Akademie als «Willkürakt» bezeichnet, der dazu diene, «das Recht der Studenten auf freie Meinungsäußerung zu beeinträchtigen». Außerdem wird gefordert, die «ungerechtfertigte Relegation» aufzuheben, «die sozialistische Studentenschaft» werde «alle Wege, die nur möglich sind, beschreiten, um dieses Ziel zu erreichen.»
Im Archiv der mdw findet sich ein Brief des Akademie-Präsidenten Karl Wiener an den damaligen Unterrichtsminister Emmerich Cermak, in dem er darlegt, warum der Antrag, Lilly Pollak «als Schülerin zu belassen», abschlägig beschieden werden müsse: «Schließlich möchte ich insbesondere noch erwähnen, dass der Ton, den Lilly Pollak vor der Disziplinarkommission anschlug, gleichfalls in besonderem Masse [sic] aufreizend und ungehörig war […]. Sie liess [sic] deutlich durchblicken, dass sie, im uebrigen [sic] eine kleine, unansehnliche Person, die völlig in sozialistische Ideengänge eingesponnen ist, so sehr auf ihre politischen Hintermänner baue, dass ihr das Disziplinarverfahren und der Spruch desselben ziemlich gleichgültig sei. Ich habe in Erkenntnis der ungeheuren Gefahr, die in solchen Versuchen radikaler Linkspolitisierung der musikstudierenden Jugend liegt, auch bereits in meinem Bericht an das B.M.f.U [Bundesministerium für Unterricht] dringendst die Abweisung des eingebrachten Rekurses beantragt und bitte nun auch Sie, hochverehrter Herr Bundesminister, im Interesse der Ruhe und Disziplin unter den Hörern und Schülern der Anstalt unter keinen Umständen eine Milderung des gefällten Spruches vornehmen zu wollen.»
Lilly Pollak kehrt nicht mehr als «Schülerin» an die Musikakademie zurück. 1932 inskribiert sie an der philosophischen Fakultät der Universität Wien und schließt ihr Studium mit einer Promotion über den Einfluss Ovids auf das englische Renaissance-Epos 1938 ab. Im selben Jahr flüchtet sie mit ihrer Mutter Ida, ihrem Bruder Egon, der ebenfalls an der Musikakademie studiert hat, und ihrem ersten Ehemann Wolfgang Speiser über die Schweiz und Frankreich nach Australien. Egon erleidet während der Flucht einen Nervenzusammenbruch und wird den Rest seines Lebens in einem Sanatorium in der Schweiz verbringen, von wo aus er Briefe, die er auch mit Kompositionsskizzen versieht, an seine Mutter schreibt.

Überschattetes Wien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versucht Lilly gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Ehemann einen Neuanfang in Wien. Während Wolfgang Speiser an seine in den 1930ern begonnene Karriere in der sozialistischen respektive sozialdemokratischen Partei anknüpfen kann, hält es Lilly Pollak im Nachkriegswien nicht aus. Ein Cousin oder eine Cousine schreibt in einem Nachruf, dass der «Schatten des Nationalsozialismus» sie dazu veranlasst habe, 1963 Wien wieder zu verlassen und nach England zu gehen. «Lilly war überzeugt davon […], dass eine große Anzahl von Österreicher_innen, mit denen sie tagtäglich Kontakt hatte, während der Zeit des Nationalsozialismus enthusiastisch pro-Nazi gewesen wäre und dass die meisten von ihnen kein Schuldbewusstsein hinsichtlich dieser Zeit hätten.» In London lebt sie zusammen mit ihrem zweiten Mann Paul Rosenow, mit ihrer Tochter Eve und ihrer Stieftochter Ruth. Sie arbeitet als Klavierlehrerin und reist immer wieder nach Australien, um Familienmitglieder zu besuchen. 1993 stirbt sie dort im Alter von 84 Jahren an den Folgen einer Hüftoperation.

Auf der Suche nach Lilly Pollak.

Die Konturen der rebellischen Musikstudentin Lilly Pollak haben sich Schritt für Schritt, bei den Gängen in die Archive der mdw und des Vereins der Geschichte der Arbeiter_innenbewegung sowie in Korrespondenzen, abzuzeichnen begonnen: Die Randnotizen in Zeitungsartikeln über eine umstrittene Reform haben zu einer aufsässigen «Schülerin» geführt, über die ein Akademie-Präsident mit kaum verhohlenem, sexistisch verbrämtem Hass auf die Arbeiter_innenbewegung urteilt; das politische Engagement, das dermaßen denunziert wurde, zu den Artikeln, die Lilly und Egon Pollak für die Sozialistische Akademische Rundschau verfasst haben; die Autorin einer Biografie über einen von Lillys australischen Verwandten hat den Kontakt zu ihrem Neffen und Schwiegersohn hergestellt, die in Mails und bei einem längeren Interview von Lilly Pollak/Speiser/Rosenow erzählten, sowie dem mdw-Archiv persönliche Dokumente überließen.
Die Schatten institutioneller, politischer, rassistischer und antisemitischer Gewalt haben sich immer wieder über Lilly Pollaks Leben gelegt. Um ihre Geschichte diesen Schatten, die mitunter bis in die Gegenwart reichen, entwenden zu können, ist es notwendig, sich an die Ränder tradierter Institutionsgeschichte(n) zu begeben, die «ungeheure Gefahr», die Lilly Pollak als politisch engagierte Studentin in den Augen des Akademiepräsidenten verkörpert hat, in den entsprechenden zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen. Und dadurch jenen Mut zu würdigen, der sich bis heute darin zeigt, der tatsächlichen «ungeheuren Gefahr» zu begegnen, die in der autoritären Entmündigung, in der Aberkennung von Selbstbestimmung und Mitspracherecht liegt. 

Eva Schörkhuber ist Mitarbeiterin im Forschungs­projekt Klingende Zeitgeschichte, das sich mit
institutionellen Randgeschichten und ihren Protagonist_innen beschäftigt. Angesiedelt ist es an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung.
mdw.ac.at