Einen Körper haben dürfentun & lassen

20 Jahre Augustin – Jahrgang 2010: Bikinifigur? Vegan for fit? Warum Frauen ihre Körper so schwer in Ruhe lassen können

2010 wurde der Augustin 15 Jahre alt. Stuttgart 21 machte die Schwäb_innen zu den Heroes zivilen Ungehorsams, Innenministerin Fekter stolperte beinah über die Abschiebung kleiner Kinder und der Reykjavíker Bürgermeister Jón Gnarr trat seine Amtszeit an. Im April 2010 sprach Ute Mörtl für die Coverstory «Rund und verbündet» mit zwei Aktivistinnen der «ARGE Dicke Weiber». Deren Agenda ist es, gegen die Diskriminierung dicker Frauen aufzutreten. Fünf Jahre später hat sich Lisa Bolyos mit einer Reihe von Frauen zwischen 17 und 53 unterhalten, die von ihrer persönlichen Körperpolitik, von ihren Strategien gegen die Anpasserei und von ihrem Verhältnis zum Dünn- oder Dicksein, zu Essstörungen und zum zufriedenen Blick in den Spiegel erzählt haben.

Bild: Lina Walde

«Als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, hat mir meine Tante ein Buch geschenkt, ich glaube es hieß ‹Die Bikini-Diät›», erzählt Sara Ablinger, 29, und damit habe die ganze Geschichte ihren Lauf genommen, und nein, sagt sie nachdenklich, sie habe diese Tante auch später nie damit konfrontiert, das Thema Körperform und Körpergewicht sei seither mit Scham besetzt. Lisa Maria Stangl, 17, runzelt erfrischenderweise die Stirn, als ich sie nach dem jugendlichen Diätwahn frage, der existiert in ihrer Wahrnehmung nicht. «Eine Bikinifigur hat man sowieso», meint hingegen Nadia Librowicz, 21, «wenn man einen Bikini anhat.» Und von Diäten will sie nichts hören, sie kann mir im Gegenteil als angehende Biologin im Detail darlegen, wieso die alle gar nicht funktionieren können. Besser Sport machen, um fit zu sein, ist ihre Devise, ein Feld, das es auch noch zu hinterfragen gilt. Sport kann Spaß machen, und fit sein im eigenen Körper ist durchaus keine schlechte Idee, aber den diskursiven Wandel von der dünnen Bikinifigur zum bio-ernährten Fitnesskörper bedenkt man besser mit massivem Argwohn.

Dass Frauen und Mädchen nicht nur auf Unzufriedenheiten mit der Figur, sondern auch auf ganz andere Sorgen mit gestörtem Essverhalten reagieren, erklärt die Psychotherapeutin Nina Kerbler vom Beratungszenrum FEM Süd einerseits mit der Sozialisation: «Frauen lernen tendenziell, dass sie gefallen, dass sie alles recht machen müssen, und leiden dabei unter der Mehrfachbelastung: erfolgreich, schön, fit, eine gute Mutter zu sein.» Essensrestriktionen hätten darüber hinaus einen sehr konkreten Charakter: «Wie groß bin ich, wie schwer bin ich, das ist messbar, da hat man, anders als bei allen anderen Herausforderungen, endlich einmal konkrete Vorgaben. Und an denen hält man sich fest.»

Nadia: «Ich finde, eine Essstörung ist dann da, wenn das Thema Essen in Konflikt gerät mit dem normalen Leben. Wenn eine Geburtstagstorte da ist, und du nimmst kein Stück wegen der Kalorien.»

Sara Ablinger, Künstlerinnenname Sara Sequoia, bloggt unregelmäßig auf «queerfatfeminist»: «ich hab mich lange wohlgefühlt in meinem körper, fand ihn schön und konnte alles mit ihm machen – nur, dass manche menschen mir sagten, ich würde nicht richtig essen. (…) es begann eine typische spirale: diäten mit 12, essanfälle mit 16, bulimie mit 22. alles weil ich meinen bunten nilpferdkörper in eine lippizanerkoppel stopfen sollte.» Wie kommen Mädchen überhaupt in jungen Jahren darauf, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmen könnte? «Bei mir war es immer schon Thema», sagt Sara: «Ich habe gemerkt, ganz viele Frauen in meiner Verwandtschaft sind extrem unsicher mit ihrem Körper. Oder mögen ihn nicht oder verachten ihn sogar.» Bei Katja Langmaier war es ähnlich: «Ich kann mich eigentlich nur daran erinnern, dass nie was gepasst hat.» Fehlende Schönheit, sagt sie, heute 36, ist nur eine von vielen Negativkonnotationen, die Dicksein anhaften. Eine andere ist Faulheit. Für ihre Mutter sei das eine furchtbare Vorstellung gewesen: «Kinder zu haben, die vielleicht den Arsch nicht hochkriegen; und wenn der fett ist, kriegt man ihn natürlich noch weniger gut hoch.» Was in Katja Langmaiers Leben – sie ist vom Land nach Wien gezogen, unterrichtet an der Uni und leitet einen queerfeministischen Verlag – dazu führte, «dass ich dreißig Jahre meines Lebens gemeint habe, ich bin halt grundlegend faul und muss dagegen was tun, muss immer übererfüllen». Und weil dieses «Faulsein» unweigerlich mit «Dicksein» verwoben war, hungerte sie sich dreißig Kilo vom Leib – «bis zu einem Punkt, bei dem meine Mutter gemeint hat, jetzt wäre es gut, wenn ich wieder was essen würde; wahnsinnig befriedigend».

Andrea (Name von der Redaktion geändert) ist Historikerin. Sie ist Anfang fünfzig und lebt in Wien, seit sie achtzehn ist. Dass ihr Körper nicht einfach so sein darf, wie er ist, hat auch sie schon als Kind gelernt: «Die Zuschreibungen kamen von außen.» Der Großvater übte psychische und sexualisierte Gewalt aus, pubertäre Körperveränderungen kommentierte er mit «Du solltest aber jetzt schon wieder abnehmen» und klopfte bei Umarmungen auf ihren Hintern. Wie das alles einzuordnen war, konnte Andrea erst als Erwachsene lernen: Wien, Studienkolleginnen, die sich gegen Sexismus zur Wehr setzten, feministische Literatur, ein Partner, dem Körperbeurteilungen völlig fremd waren, eine Therapeutin, die Interpretationen anbieten konnte. Als Kind bekam Andrea keine Unterstützung und hatte keinerlei Strategien, sich abzugrenzen: «Ich empfand mich dem vollkommen hilflos ausgeliefert. Das ist überhaupt ein Kindheitsgefühl von mir: eingesperrt sein in Dingen, aus denen ich nicht rauskomme. Meine Befreiung fand erst mit achtzehn und in Wien statt.»

Katja: «Ich lerne, mich in der Haut, die ich habe, auch wohlzufühlen, und mich nicht mehr dagegen zu stemmen, wie weit von meinem Gerippe entfernt sie verläuft.»

Dass man sich nicht einfach anziehen und aus dem Haus gehen kann, ohne sich zu vergewissern, dass man eh anders aussieht, als der Badezimmerspiegel es suggeriert; dass man nicht in der Öffentlichkeit essen kann, was und wie viel man will; dass man nicht joggen gehen kann, weil die Vorstellung im Kopf explodiert, andere Leute könnten den schwabbelnden Körper beurteilen; dass man von Ärzt_innen zuerst als dick und dann erst als Person mit einem Anliegen behandelt wird; all das bedeutet, dass einer abgewöhnt wird, sich sozial kompetent durch den Alltag zu bewegen. «Ich habe das Gefühl gehabt, ich muss permanent gegen meine biologische Materialität ankämpfen», beschreibt Katja den Kampf gegen den eigenen Körper, den sie langsam und stetig zu beenden lernt. Ob Tanten, Großväter, Mütter und Ballettlehrerinnen, Werbefachfrauen, Modedesigner und Nahrungsmittelkonzernmanagerinnen eigentlich wissen, was sie da anrichten?

Was den Frauen gemein ist: Rückblickend können sie den Mädchen, die sie einmal waren, zugestehen, dass eigentlich alles gepasst hat mit ihren Körpern. «Wenn ich mir die heutigen Fotos anschaue, war ich ein entzückendes junges Mädl und dann eine entzückende junge Frau», sagt Andrea wohlwollend. Und Katja hatte «Anfang 20 einen argen Erkenntnismoment», als sie Fotos aus ihrer Kinder- und Jugendzeit zur Hand nahm. «Ich war völlig baff, wie ich ausgeschaut habe; ich hatte mich so viel dicker in Erinnerung. Ich fand es dann recht lächerlich, dass mir meine Mutter irgendwas von gesundheitlichen Schäden erzählt hat.»

Die Strategien, das früh eingeimpfte Unwohlgefühl wieder abzubauen, sind zum Glück genauso vielfältig wie die Beweggründe, sich hässlich und falsch zu finden. Sara zum Beispiel hat bei der ARGE Dicke Weiber gelernt, wieder ohne (oder mit weniger) Genierer zu machen, was sie möchte. «Ich habe mir oft gedacht, es ist eigentlich eine Frechheit, dass ich Sachen sozusagen nicht machen darf, ich fühle mich unwohl, eigentlich würde ich gern laufen, aber ich trau mich nicht. Das hat sich durch die ARGE verändert.» Nadia meint aus eigener Erfahrung, «dass das bei jungen Mädels sehr schnell geht», dass sie, leicht beeinflussbar von Moden und dem Druck ihrer Umgebung, Idealen nachrennen, die ungesund sind. Aber, optimistisch: «Wenn sie älter und zur Frau werden, merken sie, dass eine ausgewogene Ernährung besser ist.» Katja vergibt hundert Punkte an ihre Therapeutin und macht Essen, Essstörungen und Essverhalten bei ihren Freund_innen zum Thema: «Ich lass so etwas auch nicht mehr unangesprochen.» Dabei findet sie, Tochter eines Kochs, Essen eigentlich eine schöne Angelegenheit. Und Andrea hat beschlossen, dass sie keine Kleidung mehr geschenkt bekommt. Zu brutal die Erinnerungen an Szenen unterm Weihnachtsbaum, als sie sich vor den Großeltern in zu enge Blusen zwängen musste, um dann entsprechend kommentiert zu werden. «Schals darf man mir schenken. Oder Bücher.» Ob sie den spindeldürren Verkäuferinnen, die ihr beim Hosenkauf mit apartem Lächeln erklären: «In Ihrer Größe haben wir leider nichts!», eines Tages mal eine knackige Antwort gibt, muss sie noch überlegen.

Abschließend gefragt: Ist die moralische Gefährdung der Jugend größer, wenn sie a) Leute auf der Kinoleinwand Sex haben sieht, oder wenn sie b) die Mähr vom idealen Körper eingetrichtert bekommt? Quod erat demonstrandum.

ARGE Dicke Weiber:

https://argedickeweiber.wordpress.com

Beratung bei Essstörungen:

http://www.fem.at/shared/Essst_Beratungsstellen.pdf