«Einer davon war mein Vater»vorstadt

Über 9.400 Menschen sind in Österreich bisher an Covid-19 gestorben. Einer davon ist der Vater von Erin Brennan. Zwischen Statistiken, Zahlen und Maßnahmen muss sich die Tochter Platz zum Trauern schaffen.

Text: Katharina Brunner
Illustration: Silke Müller

Wenn ich diesen Schutzanzug jetzt anziehe, gibt es keinen Weg zurück. Dann stirbt mein Papi. Dann stirbt er, dann passiert es wirklich. Ich fühle mich so unsicher, was darf ich angreifen und was nicht? Stecke ich mich an, wenn ich ihn berühre? Die Krankenschwester muss mir sagen, was ich darf. Schließlich streichle ich ihm über den Kopf, das Plastik meiner Handschuhe ist zwischen uns, ich spüre ihn nicht richtig.
Erin Brennan ist eine von vielen, die sich im letzten Jahr von ihren Liebsten verabschieden mussten. Weltweit sind bisher 2,7 Millionen Menschen, in Österreich über 9.000 Menschen an Covid-19 verstorben. Viele starben allein in Krankenhäusern, sie können nicht mehr erzählen, wie sich die Tage davor anfühlten. Ihren Angehörigen fehlt ein wichtiger Teil des Abschieds. Sie konnten nicht an ihren Betten wachen, die letzten Tage begleiten. Erin konnte das auch bei ihrem Vater nicht. Im Dezember 2020 starb er mit 71 Jahren im Krankenhaus in Floridsdorf an Covid-19. Einige Gedanken und Erinnerungen über den Tod ihres Vaters hat Erin niedergeschrieben – sie sind Teil dieses Textes.

Der Anfang vom Ende.

Wie wir alle hört und sieht Erin wenig von Menschen, die Ähnliches wie sie erlebt haben. Viel präsenter sind die Daten, die Statistiken, das Chaos bei der Impfstrategie, Pressekonferenzen rund um Öffnungsschritte. Ihre eigene Welt fühlt sich seit dem Tod des Vaters anders an als die da draußen. «Es ist der sechste Jänner, und zum ersten Mal hatte ich gestern das Gefühl, wieder mit der Realität verbunden zu sein», erzählt die 25-jährige Erin, die alle Tita nennen. Davor habe sie sich von außen betrachtet. «Das nennt man Depersonalisation», schlüpft Erin in ihre Rolle der Psychologiestudentin, die Augen leuchten kurz auf vor Begeisterung für ihr Fach.
Bald nach Beginn des zweiten Corona-Semesters an den österreichischen Universitäten geht Erin mit Maske in das Haus ihrer Eltern, um ihnen Essen vorbeizubringen. Es ist der 16. November, und das Esszimmer ist leer, ihr Vater sitzt nicht, wie so oft, mit Zeitung am Esstisch. Erin ruft nach ihren Eltern, findet sie beide im Schlafzimmer. Während sie in der Küche die Suppe aufwärmt, hört sie Geräusche und hastet zurück. Da sieht sie ihren Vater am Boden liegen. Alles was der gebürtige Amerikaner sagt, ist: «I am so weak, I am so weak.» Ich bin so schwach. Er wollte allein auf die Toilette gehen und ist zusammengesackt. Seine Frau, ebenso geschwächt, schafft es nicht, ihn hochzuheben. Auch nicht mit Erin gemeinsam, stattdessen bauen sie ein Bett aus Kissen, sodass er am Boden liegen kann.
Was Erin zu diesem Zeitpunkt weiß: Ihre Eltern ließen sich rund eine Woche zuvor gegen die Grippe impfen. Danach fühlten sie sich nicht gut, alle dachten, die Reaktionen auf die Grippe-Impfung seien der Grund. Erin hörte zuerst übers Telefon, dass es den beiden wieder besser gehe, doch dann wurde es wieder schlechter, wie Erin an diesem Freitag im November im Schlafzimmer ihrer Eltern sieht. Während sie den Vater am Boden liegen sieht, ist sie im Zwiespalt: «Ich wollte zu ihm, ihm nahe sein. Gleichzeitig hatte ich Angst. Was, wenn es Corona ist und ich mich anstecke?», erinnert sie sich. In ihrem Kopf rattern in diesem Moment die Gedanken an alle möglichen Folgen: Quarantäne, ihr Freund nicht bei ihr, ihr Babysitterjob nicht mehr machbar, sie alleine in ihrer Wohnung im 20. Bezirk. «Sonst entscheiden Eltern, was zu tun ist, wenn etwas Schlimmes passiert. Plötzlich musste ich das tun», erinnert sich Erin. Sie ruft den Krankenwagen. Der bringt ihren Vater als Verdachtsfall auf die Corona-Station im Krankenhaus Nord in Floridsdorf.
An diesem Tag sind 55 Intensivbetten in den Wiener Krankenhäusern mit Corona-Patient_innen besetzt. Es sollte der letzte Moment sein, in dem Erin ihren Vater bei Bewusstsein sieht. «Ich wünschte, ich hätte mich besser verabschiedet», erinnert sich Erin heute. Erins Mutter hat sich ebenso angesteckt. Doch anders als ihrem Ehemann geht es ihr bald wieder besser. Erins Vater, der Geschichtenerzähler, der Musikliebhaber, der, der die Menschen zusammengebracht hat, mit jedem ins Gespräch kommen konnte, hatte im Jahr davor schon gesundheitliche Probleme, sein Immunsystem war geschwächt.
In den nächsten Wochen wechseln sich Mutter und Tochter darin ab, im Krankenhaus anzurufen. Die Stimme aus dem Telefon sagt ihnen an manchen Tagen, dass es besser wird, dann wieder, dass es dem Vater und Ehemann schlechter geht.

Abschiedsbesuche.

Einmal haben wir noch mit ihm selbst über sein Smartphone telefoniert. Danach schaffte er es irgendwie nicht mehr abzuheben. Wir bitten die Krankenpfleger_innen und Ärzt_innen, ihm dabei zu helfen, aber es klappt nicht. Übers Telefon merken wir, dass alle ihr Bestmöglichstes tun, aber die Zeit scheint zu fehlen. Nach wenigen Tagen wird er auf die Intensivstation verlegt und in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Also hören wir nie mehr von ihm selbst, wie es ihm geht.
Es ist mittlerweile November 2020 und das bedeutet, die zweite und wesentlich heftigere Corona-Welle trifft Österreich. Am Höhepunkt sind aus den 55 besetzen Betten in den Wiener Intensivstationen 128 geworden. Erin hat außer beim ersten Anruf, kurz nachdem ihr Vater ins Krankenhaus kam, nie wieder seine Stimme gehört. Aus der Unternehmenskommunikation des Krankenhauses Floridsdorf heißt es im März 2021, dass das Personal immer bemüht sei, Kontakt zu ermöglichen. Wie damals, als Tita ihren Vater nicht mehr sprechen konnte, seien auch jetzt gerade, während die dritte Welle anrollt, Pfleger_innen durchgehend mit der Versorgung der Patient_innen beschäftigt. Für Betreuung derer, die nicht mehr selbst telefonieren können, fehlt oft schlicht die Zeit. In den Wochen vor dem Tod erfahren Erin und ihre Mutter nur noch per Stationstelefon von Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, wie es ihrem Vater geht. Besuch ist erst erlaubt, als der Moment des Abschieds da ist. Mittlerweile halten einige Krankenhäuser das anders und erlauben zu gewissen Zeiten angemeldeten und beschränkten Besuch.
«Die offiziellen Regeln für Besuch von Angehörigen setzt man in der Realität nicht zu hundert Prozent um. Das wäre einfach nicht menschlich», sagt die 24-jährige Lena Prikosovich (Name v. d. Red. geändert). Sie ist seit November 2019 Krankenpflegerin in einem Grazer Krankenhaus. Oft kommen mehr Menschen als offiziell erlaubt zum Abschied ins Krankenhaus: «Wie sollst du Menschen sagen, dass sie auswählen müssen, welche zwei Geschwister aus sechs sich verabschieden dürfen?», fragt sich Prikosovich. Auch Krankenpfleger_innen aus anderen Krankenhäusern erzählen dem Augustin, dass je nach Krankenhaus unterschiedlich mit den Regeln für den Abschied umgegangen, oft individuell entschieden wird. Das alles versteht Erin – rational gesehen. Der Wunsch, dass sie gerne in den letzten Tagen bei ihrem Vater gewesen wäre, noch einmal mit ihm gesprochen hätte, bevor er nicht mehr ansprechbar war, bleibt.
Der zweite Dezember war der erste Tag, an dem ich aufwachte und dachte: Vielleicht schafft er es auch einfach und lebt weiter. An diesem zweiten Tag im Dezember steht Erin als Babysitterin mit dem Kleinkind am Arm, wie jeden Mittwoch. Da klingelt das Telefon und ihre Mutter widerspricht, als Erin meint, sie könne jetzt nicht telefonieren. Ihre Mutter sagt den einen Satz, vor dem sich Erin gefürchtet hat: «Wir müssen ins Krankenhaus, um uns von Papa zu verabschieden.»
Wenn alle Therapien bis zum höchsten Level eingesetzt werden und trotzdem keine Besserung bringen, sei der Moment da, wo man einsehe, dass nichts mehr hilft, erzählt Lena Prikosovich. Seit Pandemiebeginn war sie fast durchgehend auf Stationen mit Corona-Betten tätig, ohne das Virus hätte sie weitaus weniger Menschen sterben gesehen, ist sie sich sicher. Sie hätte auch weit weniger Angehörige anrufen müssen, um zu übermitteln, dass sie sich verabschieden müssen. Viele sind erst vor allem wütend, weil nur wenige kommen dürfen. Pfleger_innen wie Prikosovich müssen erklären, immer wieder.
Erin und ihre Mutter sind keine wütenden Angehörigen, als sie ankommen. «Alle waren lieb, dennoch war alles traurig an diesem Ort», erinnert sich Erin noch im Jänner danach. Immer wieder erklärt sie den Krankenpfleger_innen, dass sie hier sein darf: «Ich bin hier, um mich von meinem Vater zu verabschieden», sagt sie etliche Male. Vor dem Eintritt ins Zimmer ihres Vaters reicht ihr eine Krankenpflegerin den Schutzanzug, er ist grün. Sie zögert ihn anzuziehen, es fühlt sich an, als würde sie damit die Entscheidung treffen, dass ihr Vater stirbt.
Alles ist eigenartig, als ich im Raum stehe. Sie warnen uns: Er könnte fremd aussehen wegen des Beatmungsgerätes. Aber sein Gesicht ist nur etwas aufgedunsen. Ich sage ihm, dass ich ihn sehr liebe. Und dass mein Bruder ihn liebt, aber nicht da ist, weil er nicht rechtzeitig aus Amerika ausreisen konnte. Dann muss ich zuhören, wie meine Mami sich vom Papi verabschiedet. Das schmerzt mich fast noch mehr als alles andere. Mami sagt, er sieht friedlich aus und dass sie das mag. Dennoch hält sie es nicht mehr aus und muss rausgehen. Ich bleibe und singe ein Lied vor: «Will the Circle Be Unbroken» von der Carter Family. Das ist vielleicht etwas kitschig. Aber manchmal bin ich das gerne.

Trauern können.

«Über die Musik habe ich meinen Vater in den letzten Jahren als Person erst richtig kennengelernt, als mehr als ‹nur› meinen Vater», schwelgt Erin in Gedanken. Sie denkt daran, dass sie ihren Vater gern viel mehr darüber gefragt hätte, wie es war, Anfang zwanzig einen Elternteil zu verlieren. Seine Eltern sind früh gestorben: «Ich erlebe Ähnliches wie er und wüsste so gern, wie er damit umgegangen ist.» Für diese Fragen bleibt der jungen Frau keine Zeit. Wegen der Corona-Maßnahmen muss das Begräbnis des Vaters auf andere Weise stattfinden. Als Diplomat kannte ihr Vater viele Leute, doch maximal fünfzig Teilnehmer_innen sind erlaubt.
Ein Begräbnis gibt die Möglichkeit, dass auch Menschen, die nicht zur engsten Familie gehören, sich verabschieden können. Kathrin Unterhofer leitet die Trauerstelle der Caritas und weiß: «Es erschwert den Trauerprozess, wenn man sich nicht verabschieden kann.» Für viele sei auch die Phase, in der man am Krankenbett sitzt, den geliebten Menschen in den letzten Tagen begleitet, eine wichtige, um zu verarbeiten, erklärt Unterhofer. Eine Phase, die Erin und ihre Mutter und viele andere nicht erleben. Seit Ende Februar bietet die Caritas Online-Trauergruppen an für Personen, deren nahestehende Menschen an einer Corona-Erkrankung verstorben sind. Unterhofer schätzt, dass vor allem Fragen darüber, wie die Infektion passiert ist, ob sie verhindert werden hätte können und wer Schuld daran hat, die Trauernden beschäftigt. Bisher gab es aber noch keine Anmeldungen.
Erin quälen genau diese Fragen: «Dass ich nie Antworten darauf bekommen werde, ärgert mich», sagt Erin. Was Erin sich nach dem Tod ihres Vaters noch wünscht: dass die Welt stehen bleibt, dass einfach gar nichts passiert, damit sie Zeit hat, um zu verarbeiten. «Aber es passiert so viel, ständig», sagt sie Anfang des Jahres erschöpft in die Kamera, eingehüllt in einen alten Pullover ihres Vaters. Es gibt Wochen, da will sie niemanden sehen, jeder Kontakt überfordert sie, sie zieht sich zurück. «Heute bin ich glücklich, das fühlt sich komisch an. Wie kann es sein, dass ich grad gar nicht viel daran denke?«, fragt sie sich im März im Wiener Augarten, drei Monate nach dem Tod ihres Vaters.
Erins Mutter trägt seit dem Tod ihres Mannes oft auch an der frischen Luft eine Maske, setzt sie nicht erst beim Bäcker auf, sondern schon am Weg dorthin. Kipferln holt sie sich in diesen Tagen oft. «Kipferln – ‹guilty pleasure› meiner Mami», erzählt Erin mit einem Lächeln. Vor der Bäckerei kommentieren zwei Frauen abwertend: «Ach, tragen wir die jetzt schon im Freien, oder wie?». Als ihre Mutter ihr davon erzählt, wünscht Erin, sie wäre dabei gewesen in diesem Moment, oder als am 31. Jänner am Wiener Ring und danach immer wieder Tausende auf die Straße gehen, um gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu demonstrieren, will Erin wütend entgegnen: «My father fucking died of that!»

Die Menschen hinter den Zahlen.

Ständig reden andere über die Todesursache ihres Vaters, haben Meinungen dazu. Die meisten denken nicht an die Toten hinter den Zahlen. Unterhofer von der Trauerstelle der Caritas erklärt sich das so: «Zahlen sind viel leichter zu verdauen. Jeden Tag kommt eine neue. Für die breite Masse ist es nicht einfach, hinzuschauen auf den wirklichen Tod: Wie viel Anteil habe ich daran? Wie wäre es, wenn sich alle besser an die Maßnahmen halten würden?» Erin hört von Bekannten, die sich nicht impfen lassen wollen: «Ich denke dann: Bitte sag dem, dass mein Vater daran gestorben ist. Es ist nicht so weit weg, wie du denkst.» In einer kurzen U-Bahn-Fahrt im April sitzen zwei Personen etwas weiter vor ihr. Einer davon nimmt seine Maske ab und isst die restlichen 10 Minuten Fahrt seine Semmel, als ob nichts wäre. Über den Gang sitzt eine Frau mit einem ganz normalen Mund-Nasen-Schutz. Sie schaut ihn mitleidig an und beginnt laut zu sagen, dass all das mit den Masken ja wirklich ein Schmarren sei, erinnert sich Erin. «So schlimm ist Covid nicht, definitiv nicht so schlimm wie eine Grippe. Wo sind denn jetzt all die Grippe­erkrankten?», sagte die Frau.
Ich spüre, wie meine Beine immer schneller zu zittern beginnen und meine Brust sich zusammenzieht. Dieses Gefühl kenn ich. Ein zusätzliches Stechen im Bauch. Eine Panikattacke, wie früher. Der Mann stimmt der Frau zu: «Ja vollkommen, und was in den Medien gezeigt wird, ist ja total übertrieben. Die Intensivstationen sind zur Hälfte leer, hab’ ich gehört. So arg ist es nicht.» Meine Hände zittern, Tränen beginnen mir aus den Augen zu strömen, ohne irgendeine Kontrolle darüber zu haben. In meinem Kopf höre ich nur: «Ihr habt doch keine Ahnung von dem Ganzen. Seid still. Seid einfach nur still. Was fällt euch eigentlich ein?!» Am liebsten würden ich ihnen meine verzweifelten Gedanken, die in mir hochschießen, so laut entgegen, dass sie still sind. Die beiden realisieren nicht, was sie in mir auslösen. Jeden Tag ist es schwer für mich, Gedanken, Trauer, Ohnmacht zu verarbeiten. Durch diese völlig absurde Diskussion dieser beiden Menschen kommt das alles in mir hoch. Ich frage Sie, Herr Ich-brauch-keine-Maske, waren Sie denn schon auf einer Covid-Intensivstation? Haben Sie die Menschen beim Kampf um ihr Leben beobachtet? Haben Sie diese Ohnmacht verspürt? Wenn nicht, seien Sie bitte einfach still. Sie haben keine Ahnung, was für Auswirkungen ihre Worte auf eine junge Frau, mit FFP2-Maske in der U-Bahn, haben. Danke.
Während viele über Corona reden, als würde es sie nicht betreffen, ist es für Erin die Todesursache ihres Vaters. Zwar denkt auch sie an die Auswirkungen der Maßnahmen auf die psychische Gesundheit, an die Jugendlichen, daran, wie sie selbst früher das Leben mit Konzerten, Veranstaltungen und Freund_innen gefeiert hat. Aber wenn sie Gesprächen zuhört, die damit enden, «dass manche Menschen eben dafür sterben müssen, damit andere wieder mehr Normalität haben», dann fühlt sie sich unverstanden: «Ja danke und fuck you. Einer davon war eben mein Vater. Ist dir das etwa egal?»

Erin, ihre Mutter und ihr Bruder bedanken sich bei allen, die täglich Menschen in der Klinik Floridsdorf versorgen.