Das System 2
«Das ist eine wirklich gute Psychologin!» Diese Worte meiner neuen Psychiaterin gingen mir durch den Kopf, auf dem Weg zu einer Praxis für Psychologische Diagnostik. Nach meinen bisherigen Erfahrungen war ich eher skeptisch.
Illustration: Karl Berger
Die nette Begrüßung der Psychologin in ihrer Praxis mit Wohnzimmeratmosphäre machte mir Hoffnung. Zu Beginn berichtete ich, dass meine Psychiaterin am Anfang der Behandlung meine kognitive Leistungsfähigkeit austesten möchte. Und ich konfrontierte sie mit der Behauptung, dass ich nun schon 20 Jahre lang vorwiegend Fehldiagnosen von Psychiatern und Therapeuten bekommen habe. Da schaute die Psychologin mich skeptisch an. Nach der Befragung und den Tests am Computer sollte sie mir recht geben.
Die Psychologin erklärte mir dann nämlich, dass ich ganz eindeutig ein schweres Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom habe. Man kennt ADHS von extrem zappeligen Kindern, in meinem Fall fehlt allerdings die Hyperaktivität, also ist es eigentlich ADS. Und viele andere meiner Probleme sollen Überlastungsreaktionen bzw. soziale Defizite sein, die sich auf diese Einschränkung zurückführen lassen. Die Psychologin schaute sich meinen Befund einer Diagnostik an, die ich vor 10 Jahren gemacht hatte, und sagte, man hätte ADS schon damals anhand der Testergebnisse erkennen müssen. Was soll ich noch dazu sagen? Vielleicht das, was mein bester Freund am Tag drauf zur Diagnose ADHS gesagt hat: «Das pfeifen ja die Spatzen vom Dach!» Wieso fällt es den Ärzten nicht auf? Meine ehemalige Partnerin hat schon zirka 2003 mir gegenüber die Vermutung geäußert, dass ich ADHS habe. Jetzt, nach 20 Jahren unterschiedlichster Behandlungen, nehme ich erstmals ein Medikament, das bei ADHS hilft. Und ich merke nach einem halben Jahr deutliche Verbesserungen, insbesondere in einigen für mich bisher besonders schwierigen sozialen Umgebungen. Womöglich litten meine Ärzte ebenfalls an ADHS und konnten dieses bei mir nicht wahrnehmen?
Die Erfolge waren messbar, aber beschränkt
Ich habe nun auf den weiten Wiesen der Psychotherapie schon viele «Religionen» kennengelernt, viele «Glaubenssysteme» studiert. Von der Freud´schen «Triebfixierung» über die «Schauspielerfahrungen» im Rahmen von systemischen Familienaufstellungen, den «Turnerverrenkungen» bei Körpertherapien bis zur «Pawlow´schen Konditionierung», dem Behaviorismus, auf deutsch Verhaltenstherapie. Die Erfolge waren messbar, aber beschränkt. Einzig der Jung´sche Ansatz brachte mich (besonders aufgrund des einmaligen Charakters des Therapeuten, der mich 4 Jahre lang behandelte) neben dem Freud´schen deutlich weiter. Ein «Jünger» Freuds vermutete übrigens hinter jedem Kontakt einer Frau zu mir ein sexuelles Interesse dieser Frau. Das wurde mit der Zeit ziemlich mühsam, auch wenn es verlockend gewesen wäre, hätte es zugetroffen. Da ich fast immer nach spätestens 2 Jahren die Geduld verlor, kann ich eine lange Liste an Therapeuten und Ärzten vorweisen. Und mit ihr eine lange Liste an unterschiedlichen Diagnosen. Denn diese gehen scheinbar mit der Mode. Jeder Therapeut hatte in der Regel sein Spezialgebiet, und meist hing die Diagnose offenbar mit diesem zusammen.
«Heilsames» Erlebnis
Am Anfang war die Depression. Das war in den 80ern, als ich während meiner Studienzeit zu einer Beratung ging, die gängigste Diagnose, wenn man von Psychosen und anderen schweren Störungen absieht. Denn eine Depression begleitet ja viele andere Störungen. In dieser Anfangszeit hatte ich ein «heilsames» Erlebnis bei einem Psychiater, der während des Erstgesprächs einen Telefonanruf erhielt. Im Verlauf des Telefongesprächs bekam er einen heftigen Wutanfall und brüllte mit rotem Kopf wie ein Hysteriker in den Telefonhörer. Mein Vertrauen in diesen Arzt war daher nicht gerade riesig, die Vorurteile über Psychiater schienen sich als Untertreibung zu offenbaren; ja das Erlebnis führte dazu, dass ich die Arztsuche mal bleiben ließ.
Ich probierte es lange Zeit danach auf einer psychosomatischen Station. Zum Erstgespräch kam ich leider viel zu spät, weil ich eine falsche Information erhalten und in einem anderen Stockwerk gewartet hatte. Die Therapeutin war aber davon überzeugt, dass ich Angst vor ihr gehabt habe und deswegen später dran sei. Ich versuchte, ihr den Sachverhalt zu erklären. «Nein, Sie haben Angst vor mir gehabt!!» Was sollte ich ihr da sagen? Ich hatte sie ja noch nie gesehen, wieso hätte ich Angst haben sollen? Im Verlauf der Therapie stellte sich allerdings heraus, dass es tatsächlich Gründe gab, Angst zu bekommen. Zu meiner Unachtsamkeit in den Gruppentherapien stellte sie folgende profunde Diagnose: «Er will nicht aufpassen!» Ich ergriff schließlich die Flucht («ängstlich-vermeidendes Verhalten!»), weil mir der Therapieansatz doch zu dogmatisch war. Und man jeden Tag um halb sechs durch ein Gebet über Lautsprecher geweckt wurde.
Leider wurden dann meine Probleme immer größer, und ich landete schließlich auf einer Psychiatrie. Dort wurde ich von einer Expertin für Zwänge behandelt, und ich hatte fortan die Zwangsvorstellung, dass Zwangsgedanken und Grübeln meine eigentlichen Probleme seien (zweifellos waren es massive Symptome). Sowie ein stark reduziertes Selbstwertgefühl; in diesem Punkt hatte sie recht. Letzteres führte auch dazu, dass ich den Ärzten immer blind vertraute und geduldig jeden Wechsel der Diagnose über mich ergehen ließ. Was ich heute noch bedaure, dass ich in den Doktortitel immer mehr Vertrauen hatte als in meine eigene Sichtweise und meine eigenen Empfindungen.
Auf dieser Psychiatrie war ein Patient, der von ständigen furchtbaren Schmerzen gequält wurde und immer wieder einen Suizid ankündigte, was aber keiner ernst nahm. Da zum Behandlungskonzept der Klinik Wochenendheimgänge gehörten, erhielt auch er einen Ausgang, währenddessen er sich in seiner Wohnung erhängte. Extreme chronische Schmerzen sind ja bis heute für die beamtete Medizin nicht relevant. Dies ist mir durch das Schicksal eines Freundes klar geworden, der wiederholt einen Antrag auf Invaliditätspension bei der PVA gestellt hatte.
Meist keine Wirkung, aber deutliche Nebenwirkungen
Immerhin erhielt ich auf der Psychiatrie erstmals ernsthafte Therapie, und es erging mir im Verlauf des Aufenthalts besser, ja, ich war sogar in der Lage, literarisch aktiv zu sein. Denn ich textete den Song «Bruttosozialprodukt» um (von «Geier Sturzflug»), aus den 80ern, und beschrieb darin das Leben auf der Psychiatrie:
Wenn früh am Morgen Pfleger Herwigs Stimme dröhnt
und Schwester Karin beim Einschachteln lustvoll stöhnt,
steh´n die Patienten vor dem Stützpunkt Schlange
und es wird allen schon angst und bange!
Ja, ja, ja, jetzt wer´n wieder Medikamente geschluckt!
Wir steigern das Pharmaindustrieprodukt! (Whlg.)
Die Krankenschwester kriegt n´en Riesenschreck!
Schon wieder ist ein Manisch-Depressiver weg!
Denn sie gab ihm ja 10 Valium,
und jetzt kurvt er in der Welt herum
Ja, ja, ja….
Medikamente spielten eine zentrale Rolle auf der Psychiatrie. Die Verordnungen liefen allerdings nur nach dem Prinzip des Ausprobierens ab. Ich bekam jede Woche neue Tabletten und spürte meist keine Wirkung, aber deutliche Nebenwirkungen. Nach vielen Wochen hatte man schließlich Medikamente gefunden, deren Wirkungen die Nebenwirkungen übertrafen. Es gab auf der Psychiatrie scheinbar auch Tabletten mit einer wundersamen, unerklärlichen Wirkung, mit denen man nämlich völlige Kontrolle über andere Menschen ausüben konnte. Nicht einmal sah man Patienten wie ferngesteuert durch die Gänge gehen.
Aufs Land
Danach konnte ich viele Jahre mit ambulanten Therapien das Auslangen finden. Die beste Wirkung zeigte aber eine besondere Form einer stationären Therapie: Ich zog einfach für ein paar Jahre aufs Land. Natur statt Therapeut. Als ich berufsbedingt wieder nach Wien kam, ging das Spiel von vorne los. Schließlich landete ich in einer psychosomatischen Klinik. Aus Gründen, die offenbar nur er kannte, änderte der Primar den Plan und steckte mich in eine Gruppe mit ausschließlich Frauen. Die Hälfte von ihnen hatte traumatische Erfahrungen mit Männern gehabt. So wurde ich 4 Wochen lang von mehreren dieser Frauen gemobbt, was wiederum traumatisch für mich war. Fast zwingend erhielt ich als erste Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung. Ich empfand es als Pein, als einziger Mann in eine Frauen-Therapiegruppe versetzt worden zu sein, es kam mir wie eine beabsichtigte Strafe vor. Später hab ich mich scheinbar unbewusst für die Pein revanchiert, denn ich hab mich in der Körpertherapie mit dem Oberarzt gecatcht; eine Patientin ist vor Schreck aus der Stunde geflohen. Dann wurde aus meiner bisherigen Diagnose eine kombinierte Persönlichkeitsstörung. Wenn man sich nicht sicher ist, nimmt man am besten eine Diagnose, die möglichst viel umfasst.
Nach all den vielen Jahren und Therapeuten bleibt mir zum Schluss zu erwähnen, dass es mir danach insgesamt doch deutlich besser ging. Dazu hat sicherlich auch die soziale Einstellung vieler (ambulanter) Therapeuten beigetragen; denn ich konnte meist zu einem Sozialtarif Therapie in Anspruch nehmen.
Anm.: Der Titel dieses Texts ist dem Filmdrama von Miloš Forman aus dem Jahr 1975 entlehnt